Aerosolübertragung beim Singen

! Dieser Menüpunkt wird aktuell überarbeitet und einem neueren Erkenntnisstand angepasst. Dafür muss ich ihn weitergehend umbauen. Ich habe überlegt, den Menüpunkt so lange offline zu schalten, bis dieser Umbau fertig ist, lasse ihn dennoch online, damit Informationen und Querverbindungen nicht zu lange nicht zugänglich bleiben !

Inhalt dieses Menüpunkts

  1. Ein Puzzle an Argumenten und Beobachtungen, die eine besonders leichte Übertragung von Corona beim Singen nahe legen
  2. Die anfängliche Zurückweisung der Aerosolübertragung in Chören
  3. Warum wir sicher sein können, dass Chöre sich primär über die Luft angesteckt haben
  4. Spezielle Untersuchungen zu Tröpfchen, Aerosolen und Luftbewegungen beim Singen
  5. Diskussion der Hintergründe des Ansteckungsrisikos beim Singen (aktuell unsortiert und in Bearbeitung)
  6. Zusammenfassung (noch alt)

Dass die Möglichkeit besteht, sich beim Singen über die Luft zu infizieren, wird mittlerweile nicht mehr angezweifelt. Lange Zeit war dies nicht so. Mitunter gab es energischen Protest gegen diese Ansicht, und die WHO hatte ja im Frühjahr 2020 die Möglichkeit einer Ansteckung über die Luft noch als Fakenews deklariert. Weltweit haben sich aber immer wieder Singgruppen in auffällig starkem Maß mit Corona infiziert – zum Teil mit Angriffsraten bis zu 90 % oder vielleicht sogar darüber. Immer wieder wurde versucht, das Phänomen klassisch via Tröpfchen- und Schmierinfektionen zu erklären. Diese Ereignisse haben aber zu Recht entscheidend dazu beigetragen, dass die Luftübertragung als mögliche Variante der Corona-Übertragung erst ernst genommen wurde. Hier möchte ich nun zeigen, warum die Ansteckung beim Singen recht sicher und viel leichter als in vielen anderen Situation über die Luft geschieht, warum sie sich von normalen Sprechsituationen stark unterscheidet und dass es in unserem Interesse als Singende und Dirigierende stehen sollte, geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die die Gefahr eine Übertragung über die Luft in der Nähe wie im gesamten Raum minimieren. Singen kann dank einiger Mechanismen eines Zusammenspiels aus Atmung und Aerosolproduktion, die ich hier näher erklären möchte, den vorliegenden Daten folgend offenbar sehr viel höhere Ansteckungsdosen generieren als die meisten sonstigen Tätigkeiten und wurde schließlich im April 2021 von einem internationalen Team aus bekannten Aerosolwissenschaftlern aufgrund einer Auswertung zahlreicher Ansteckungsereignisse nach dem Niesen als “zweithöchstes Risikoszenario” nach dem Niesen überhaupt eingestuft.

Die fortschreitende Impfung gibt nun neue Hoffnung und Perspektiven für Singgruppen und lässt hoffen, dass besonders Geimpfte untereinander sehr viel geschützter sind und sich wieder viel weiter aus dem Fenster lehnen können. Meines Erachtens liegen Stand jetzt (Juni 2020) aber noch nicht genügend spezifische Daten vor, die eine Beurteilung erlauben, wie hoch der gesteigerte Schutz speziell in Singsituationen einzustufen ist. Da die Menge der Virenaufnahme bei der Ansteckung (die Infektionsdosis) auch maßgeblich die Schwere einer Infektion beeinflusst und die Impfung zwar das Ansteckungs-, Erkrankungs- und Sterberisiko spürbar reduziert, dabei aber immer noch abhängig bleibt von der Infektionsdosis, die beim Singen viel höher sein kann, ist zu fragen, wie hart Corona speziell beim Singen unter Geimpften etwa durch ungeimpfte Superspreader allenfalls noch einschlagen kann – vor allem dann, wenn andere Schutzmaßnahmen zurückgefahren werden. Oder eben, wie weit hier für Geimpfte doch Entwarnung gegeben werden kann.

Nachdem vor Beginn der Pandemie noch wenig belastbares Material über die Aerosolproduktion beim Singen vorlag, hat es nach ihrem Ausbruch in vielen Ländern spezifische Aerosoluntersuchungen beim Singen gegeben, die unterm Strich eine stärker erhöhte Aerosolproduktion beim Singen bestätigt hat. Auch ist vielfach gezeigt worden, dass die produzierte Aerosolmenge maßgeblich mit der besseren Schwingung der Stimmbänder beim Singen und mit der Lautstärke bei allen Lautäußerungen korreliert. Aufgrund der zusammengetragenen Daten ergibt sich allerdings der Verdacht, dass die Art der sängerischen Atmung, insbesondere der sängerische Schnappatem, und das häufige Aussingen von und auf Restluft beim Gruppensingen ein viel höheres Potenzial haben könnten, Viren zu transportieren als gut schwingende Stimmbänder und die bloße Lautstärke (die freilich auch ihren Teil dazu beiträgt). Unter Umständen sind so die Ausbrüche in Singgruppen besser zu erklären als durch den Verweis auf die gemeinsame vergleichsweise hohe Lautstärke beim Singen. Dieser Verdacht, dem ich in Zukunft noch näher nachgehen möchte, motiviert den aktuell anstehenden Umbau dieses Menüpunktes.

Ich muss gestehen, dass ich Skrupel hatte und habe, die folgenden Sachverhalte ungeschminkt darzustellen. Singen ist außerordentlich gesund und stärkt die Abwehrkräfte (vgl. Menüpunkt Singen heilt). Singen verdient den Imageschaden nicht, den es aktuell erlitten hat. Auch will ich den Teufel nicht an die Wand malen: In sehr vielen Singsituationen wird natürlich auch ohne besonderen Schutz nichts passieren. Das ist abhängig davon, ob es erstens überhaupt Infizierte im Chor gibt, zweitens wie viel Viren die Infizierten emittieren (siehe auch Menüpunkt Aerosolübertragung Indizien) und drittens wie viel Geimpfte, Genesene und allenfalls auch negativ Getestete zum Singen zusammenkommen. Das zu beurteilen halte ich selbst auf der Grundlage der vielen hier zusammengetragenen Daten für außerordentlich schwierig. Die umgekehrte Haltung, das höhere Ansteckungspotenzial beim Singen gegen die Befunde kleinzureden, wie das weltweit bei vielen Interessenverbänden geschehen ist, halte ich nicht für richtig. Vor allen den Ungeimpften sollte klar sein, welches Risiko sie möglicherweise in einer Singgruppe eingehen, wenn Schutzmaßnahmen weitgehend zurückgefahren werden (wenn solches denn erlaubt ist) – und allenfalls welche Gefahr von ihnen selbst noch ausgehen könnte und welche Verantwortung sie allenfalls auch für andere tragen, so lange nicht belastbare gegenteilige Daten vorliegen.

1. Ein Puzzle an Argumenten und Beobachtungen, die eine besonders leichte Übertragung von Corona beim Singen nahe legen

Es ist kein Vergnügen, als praktizierender Sänger und Chorleiter Argumente, Beobachtungen und Statements für die besondere Übertragungbarkeit von Corona beim Singen zusammenzutragen. Viel lieber wäre mir, dem wäre nicht so, und wir könnten wie gehabt alle Projekte wieder normal in Angriff nehmen. Einige Wissenschaftler haben sich vor allem im ersten halben Jahr nach Ausbruch der Pandemie gegen die These einer besonderen Übertragbarkeit beim Singen ausgesprochen, und ihr Votum ist von Ausübenden und Verbänden dankbar aufgegriffen worden. Aber es gibt eine erdrückende Last von Indizien gegen ihrer Annahme, die ich hier vorstellen möchte. Es muss uns Chorleitenden und Gruppengesangsverantwortlichen klar sein, dass und warum gerade das Singen, so unbestritten gesund es auf hormoneller Basis ist und so gut es bei vielen Krankheiten wie Asthma oder Depression tut, aktuell mit dem Klotz einer besonderen Übertragungsfähigkeit beladen ist, und dass wir, so lange Corona nicht weitgehend seine Zähne verloren hat, abhängig auch von Impfrate und Virusmutationen nicht nur selbst einem besonderen Risiko ausgesetzt sind, sondern auch allen Beteiligten und dem großen Kreis derer, die durch einen Ausbruch in der Gesangsgruppe in Mitleidenschaft gezogen werden, gegenüber eine Verantwortungs haben und verantwortungsvoll handeln sollten. Es erscheint mir gegenüber den Ausübenden, ob Profis oder Laien, nicht fair zu sein, wenn das besondere Risiko einer Ansteckung beim Singen wodurch auch immer verniedlicht wird.

a) Empirie: Es ist auffällig, dass immer wieder Gesangsensembles von Ausbrüchen zum Teil mit hohen Ansteckungsraten betroffen waren (vgl. ausführlichere Darstellung unter Betroffene Singgruppen)

Einige Chöre gerieten zu Beginn der Pandemie in die Schlagzeilen, weil sie sich zu einem hohen Prozentsatz infiziert haben. Dabei blieb es bei Weitem nicht bei den immer wieder in der Presse zitierten drei Chören aus Mount Vernon/Washington, Berlin und Amsterdam stehen geblieben. Ich habe einen eigenen Menüpunkt (Betroffene Singgruppen) einer Auflistung von Ansteckungsereignissen bei europäischen Gesangsensembles vor allem im Frühjahr und im Herbst gewidmet. Diese Ausbrüche wurden im Wesentlichen von der Presse oder von den Ensembles selbst dokumentiert. Von vielen Seiten wurde ich jedoch privat hier in der Schweiz wie auch in anderen Ländern auf Ansteckungsereignisse in Gesangsensembles aufmerksam gemacht, die weder von den Ensembles selber, noch von der Presse dokumentiert worden sind. Bei konkreten Fällen weiß ich auch, dass die Betroffenen die Vorfälle nicht breit getreten sehen wollten. Aus den vorliegenden Daten ist es daher schwierig abzuleiten, wie oft Ansteckungsereignisse in Chören allenfalls noch zu erwarten sind, wenn bisherige Sicherheitsmaßnahmen zurückgefahren werden. Alle die beschriebenen Ansteckungsereignisse gehen im Wesentlichen noch auf den so genannten ursprünglichen Wildtyp und nicht auf die so genannten besorgniserregenden Mutationen zurück. Die Ansteckungsfähigkeit mit einem Virus hängt entscheidend von der Viruslast ab, die Infizierte Entwickeln. Bereits die Alpha-Variante, die sich seit Ende letzten Jahres in weiten Teilen der Welt als vorherrschenden Variante durchgesetzt hat, generiert bei Infizierten eine durchschnittlich 10 x höhere Viruslast und ist zwischen 60 und 150 % ansteckender als der Wildtyp. Die sich aktuell im Sommer 2021 (Stand Juni 2021) durchsetzende Delta-Variante ist wohl nochmals um einiges mehr ansteckend, sonst würde sie sich nicht durchsetzen. Singgruppen sind aktuell abhängig vom Anteil Geimpfter und Genesener also mehr als nur um einiges leichter zu infizieren als im Moment, wo die meisten Ausbrüche beim Singen dokumentiert wurden.

b) Empirisch: Es ist auffällig, wie viele der berühmtesten Opernsänger*innen gleich in den ersten Phasen der Pandemie signifikant häufiger angesteckt wurden, als zu erwarten war

Man könnte vielleicht diesen Punkt unter Zufall verbuchen, wenn nicht viele weitere Punkte für die besondere Ansteckungsfähigkeit beim Singen sprechen würden: In den ersten Phasen der Pandemie wurden auffällig viele der bekanntesten Opernsänger*innen mit Corona angesteckt – und das Ganze zu einem Zeitpunkt, wo erst ein sehr kleinere Teil der Bevölkerung infiziert worden war. Zu nennen sind hier Placedo Domingo, Anna Netrebko, Jonas Kaufmann, Andrea Bocelli, Hibla Gersmova. Gleich ob seinerzeit erst 2, 5 oder 10 % der Bevölkerung in den entsprechenden Ländern infiziert war, man würde wohl kaum 10 x, 20 x oder sogar 50 x mehr solche klangvollen Namen aus der Opernszene nennen können, um nahe zu legen, dass es sich hierbei um Zufall handelte. Die genannten Opernsänger haben Corona glücklicherweise gut überstanden – zum Teil mit einer langen Genesungsphase. Andere Opernsänger*innen hatten das Glück nicht, sondern sind an der Infektion gestorben, oder leiden an Long Covid.

c) Empirisch: Es ist auffällig, dass vielsingende religiöse Gruppen besonders von Ausbrüchen betroffen waren (vgl. ausführlichere Darstellung hierzu im Menüpunkt Betroffene Singgruppen):

Viele Kirchen in Europa hatten seit Beginn der Pandemie strenge Schutzkonzepte, die wohl vielfach dazu beigetragen haben, dass Ansteckungsereignisse aus- oder kleinblieben. In vielen christlichen Kirchen wurde auf Gemeindegesang verzichtet, in anderen leise mitgesummt. Besonders evangelikale Kirchen, in denen dennoch gesungen wurde, sorgten durch wiederholte Gruppenausbrüche in großem Stil für Aufsehen. Evangelikale Kirchen etwa in den USA haben anfänglich das Recht auf Gemeindegesang auch während der Pandemie verteidigt und konnten offenbar soviel Einfluss auf Donald Trump ausüben, dass Hinweise auf die Luftübertragung beim Singen aus entsprechenden öffentlichen Papers der amerikanischen Seuchenschutzbehörde wieder gelöscht wurden. Eine Auswertung von 5,4 Mrd. Bewegungsdaten von über 100 Mio. Mobilfunknutzern in den USA hat freilich gezeigt und bestätigt, was bis dahin nur Vermutung war, nämlich das amerikanische Kirchen ganz besondere Ansteckungshotspots waren (Chang et al. 2020). Nach den Restaurants fanden in ihnen die zweitmeisten Corona-Ausbrüche statt. Die Vermutung, dass diese in vielen Fällen mit dem Gemeindegesang in Verbindung gestanden haben dürfte, ist wohl nicht hergeholt.

Auffällig war die starke Betroffenheit jüdische orthodoxer Kreise zu Beginn der Pandemie in sehr vielen Ländern. Die Ursache dafür wurde vielfach im Sozialleben gesucht. Allerdings verzeichneten sozial direkt vergleichbare Gruppen in anderen Kulturen (etwa muslimischen) nicht annähernd so hohe Ansteckungsraten, so dass die Ursachensuche weitergehen muss. Das orthodoxe Judentum unterscheidet sich von sozial ähnlichen muslimischen Gruppen signifikant durch seine ausgeprägte Beziehung zum Gesang. An den Schulen wird viel gesungen und Gottesdienste finden mitunter rein singend statt. Auch in orthoxoden Klöstern und Kirchen, wo in Gottesdiensten ausserordenlich viel gesungen wurde, kam es zu großen Ausbrüchen.

d) Empirisch: Es ist auffällig, dass Singen bereits schon im Zusammenhang mit der Tuberkulose in den Verdacht geriet, Übertragungen über die Luft zu erleichtern

Bereits zu früheren Zeiten, als die Tuberkulose in unseren Breiten noch ein größeres Problem war als heute, fiel auf, dass immer wieder Mehrfachansteckungen in Singgruppen vorkamen. Erstmals wurde wohl von einer Forschungsgruppe um Joseph H. Bates, der als Forscher zu einem dramatischen Paradigmenwechsel des Verständnis von Tuberkulose beigetragen hatte, der spezielle Verdacht artikuliert, dass der Vorgang des Singens selbst seinerzeit die Ursache für die Bakterienübertragung gewesen sein könnte (Bates et al. 1965). Das Team um Bates hatte einen Tuberkuloseausbruch in einem Knabeninternat untersucht. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass der überwiegende Prozentsatz der Ansteckungen in den täglich stattfindenden einstündigen Chorproben stattfanden, während Vergleichbares kaum im zwölf Stunden täglich geteilten Schlafsaal und in der rege frequentierten Schulkantine zu beobachten war. Das Team mutmaßte eine besondere Übertragungsfähigkeit beim Singen hauptsächlich aufgrund einer effektiven Tröpfchenvernebelung auf den Stimmbändern. Der Tuberkuloseausbruch, der mit Singen in Verbindung gebracht wurde, war nicht der einzige, aber vermutlich der am Besten dokumentierte.

Auswertungen von Ausbrüchen in oder durch Singgruppen

Nicht nur bei der Tuberkulose, sondern auch im Rahmen der Coronapandemie gab es gezielte wissenschaftliche Auswertungen von Ausbrüchen in Chören und Singgruppen:

  • Hamner et al. 2020: Eine Expertengruppe wertete im Auftrag der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC das medial bekannte Ansteckungsereignis im Skagit Valley Chorale im März 2020 aus und gelangte auf der Grundlage von konkreten Beobachtungen, aber auch von Wahrscheinlickkeitsberechnungen zu dem Schluss, dass hier am wahrscheinlichsten eine einzige infizierte Person in einem Punktquellenereignis in der Probe vom 10. März 2020 52 ihrer 60 MitsängerInnen mit Corona angesteckt hat. Zum ersten Mal wurde auf Seiten der CDC der Verdacht geäußert, nicht nur die Nähe, sondern auch das Singen selbst könne hier eine maßgebliche Rolle gespielt haben – und zwar beeinflusst durch “die Lautstärke der Vokalisierung”.
  • Miller et al. 2020: Dem Fall des Skagit Valley Chorale hat sich im Anschluss an die vorher beschriebene Untersuchungen. Jiminez, der vermutlich das erste Tool erstellt hat, wie sich Aufenthaltsdauer, Raumgröße und Personenzahl bei verschiedenen Aktivitäten (auch im Chor) auf ein potenzielles Ansteckungsrisiko auswirkt, gibt als einer der beteiligten Wissenschaftler an, ihn hätte diese Untersuchung nachhaltig von der Übertragbarkeit von Corona über die Luft überzeugt.
  • Kriegel et al. 2020: Auf der Basis von Daten einer bis dahin unveröffentlichten Untersuchung des RKI werden Rahmendaten zum Ausbruch beim Berliner Domchor in einer 1200 m³ großen Aula im März 2020 bekannt gemacht.
  • Shah et al. 2021: In einer wissenschaftlichen Untersuchung wandten sich Experten der holländischen Seuchenschutzbehörde sechs konkreten Ausbrüchen in Singgruppen zu, die im September und Oktober 2020, nachdem Singen wieder erlaubt worden war, in Holland auftraten. Dabei war es zu Erkrankungsraten von 25 bis 74 % der Singgruppenmitglieder in Raumgrößen bis zu 3000 m³ gekommen. In vier Fällen konnten die Indexfälle ausgemacht werden, aber kein Superspreader unmittelbar bestätigt werden. Wiewohl die Wissenschaftler auch andere mögliche Ansteckungswege nicht kategorisch ausschlossen, tendierten sie dazu, in Singgruppen eine besondere Ansteckungsfähigkeit über die Luft zu diagnostizieren. Die Forscher diskutieren im Abschlussbericht auch den Einfluss von Lüftung und gelangen im Fall eines Superspreaders im Chor bei deutlich verbesserter Lüftung zu vergleichsweise pessimistischen Einschätzungen.
  • Kathelaris et al. 2021: Ein Team australischer Wissenschaftler untersuchte einen Coronaausbruch in der Kirche in zwei Gottesdiensten an zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Ein einzelner Chorist hatte Gemeindeglieder in einer Entfernung bis zu 15 m infiziert. Der Chorist hatte keinerlei Kontakt zu den Gemeindemitgliedern im Hauptkirchenraum, sondern erschien nur auf der Empore für seinen Dienst. Die Wissenschaftler sahen in diesem Fall einen deutlichen Beleg für die Ansteckung von Corona über die Luft.
  • Schijven et al. 2021: Ein Wissenschaftlerteam wertete umfangreiche Daten zum Atmen, Sprechen, Singen, Husten und Niesen hinsichtlich Aerosolproduktion und Viruslasten aus und kommt zu dem Schluss, dass beim Singen das zweithöchste Infektionsrisiko nach dem Niesen besteht. Ein Luftaustausch pro Stunde halbiert das Ansteckungsrisiko, sechs Luftwechsel pro Stunde um den Faktor 4 bis 9, beseitigt das Risiko also nicht.
  • Reichert et al. 2021: Ein Wissenschaftlerteam wertete zwei Fälle von Coronaausbrüchen in Chören in Berlin aus, und versuchte nachträglich Erkenntnisse zur Übertragungswahrscheinlichkeit zu gewinnen. Die Wissenschaftler errechneten, dass eine durchschnittliche Menge von 1039-2883 eingeatmeten Partikeln, die durch die infizierte Person ausgeatmet wurden, ausreichten, um 50 % der Anwesenden zu infizieren. Sie verweisen darauf, dass Berechnungen zufolge erste Ansteckungen bereits nach 7 Minuten erfolgten und auch in großen Räumen innerhalb von Minuten Ansteckungen beim Singen stattfinden können. Angesichts des Potenzials einer präsymptomatischen Infektiosität sei überall dort größte Vorsicht geboten, wo sich Aerosole ansammeln können.

e) Es ist auffällig, in welche großen Räumen es bei Singereignissen zu Coronaausbrüchen kommen konnte, wie dies bei Sprech- und Atemereignissen nicht bezeugt ist

Es ist auffällig, dass bei den bekannt gewordenen Superspreadingevents, bei denen Ausbrüche auf ein singuläres Ereigniss zurückgeführt werden konnten, eigentlich nur Ausbrüche in Singgruppen in Räumen von Kirchen- und Hallengröße (800 m3 bis nahezu 10.000 m3) beobachtet wurden. Bei anderen Ansteckungsfällen wie in Schlachthäusern (3000 m3) und in Callcentern (670 m3 ) liegt es nahe. Viele Ausbrüche, die mit Sprechen und Atmen in Verbindung stehen, wurden dagegen nur aus Räumlichkeiten von 50 bis 200 m3 rapportiert. Ansteckungen aus Kirchen im Zusammenhang mit Singen sind immer wieder bekannt geworden, in den wenigsten Fällen liegen Angaben zum Raumvolumen vor.

f) Umkehrschlüsse aus Ansteckungssituationen: Generierung von 15 bis 50 x mehr Ansteckungsdosen beim Singen in der gleichen Zeit wie beim Sprechen oder Atmen?

Da die generelle Anzahl an Viren, die für eine Covid-19-Infektion benötigt wird, noch nicht direkt gemessen wurde und bekannt ist, haben Forscher Ausbruchssituationen mit bekannten Größen wie infizierter Personenzahl, Raumvolumen und Aufenthaltsdauern rechnerisch unter die Lupe genommen, und versucht zu ermitteln, wieviele Ansteckungsdosen, so genannte Quanta, denn bei diesen Ausbruchssituation produziert worden sein müssen, um eine im Raum verteilte Schar von Menschen anzustecken. Wie eine solche Berechnung funktioniert, erklären etwa Kriegel et al. 2020.

Eine Berechnung bei Sprechsituationen ermittelten Werte von 22 bis zu 61 Quanta pro h beim Sprechen (Dai et Zhao 2020), eine andere Berechnung eines anderen Teams (nämlich eines, das das Superspreadingereignis im Skagit Valley Chorale in Mount Vernon, Washington, auswertete) fürs Singen aber einen Wert von 341 bis 1190 (vermutet 970) Quanta (Miller et al. 2020). Das also würde auf ein etwa 15 bis 50-fach erhöhtes Potenzial zu infizieren des Singens gegenüber dem Sprechen hin deuten. Solche Werte sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, da hier noch die unterschiedlichen Viruslasten des Superspreaders ins Gewicht fallen oder fallen können. Da es aber immer wieder in Chören oder singenden Gemeinden, Hochzeitsgesellschaften usw., nicht aber in reinen Sprechsituationen (es sei denn in Bars und Clubs, wo oft nahezu geschrien und mitunter auch gesungen wird) zu vergleichbaren Superspreadingsevents gekommen ist, ist die Annahme einer deutlich höheren Infektiosität beim Singen plausibel und zeigt eine deutliche Tendenz an – auch wenn sie auf der Grundlage von Worst-Case-Szenarien gewonnen wurde.

Auf der Grundlage dieser Berechnungen beim Skagit Valley Chorale hat Aerosolforscher und Chemieprofessor Prof. Jose L. Jimenez den ersten Covid-Estimator erstellt, der die Wahrscheinlichkeit von Superspreadingereignissen in unterschiedlichen Situationen über kontaminierte Luft berechnet. Ein entsprechendes, recht einfaches Berechnungstool des Hermann-Rietschel-Instituts scheint sich auf das gleiche Ereignis in Mt. Vernon zu stützen (Kriegel et al. 2020) und gewichtet das Risiko, sich beim Singen infizieren zu können, entsprechend hoch.

2. Die anfängliche Zurückweisung der Aerosolübertragung in Chören

Die Aerosolübertragung wurde anfänglich fälschlicherweise nicht nur allgemein, sondern auch in Chören im Speziellen zurückgewiesen und durch Alternativen erklärt, was leider immer noch Auswirkungen auf Hygienekonzepte hat.

In der Anfangszeit der Pandemie hat die WHO wie gezeigt (s. Menüpunkt Aerosolübertragung Indizien) in Berufung auf klassische Annahmen die Aerosolübertragung als unhaltbar zurückgewiesen und den Fokus ganz auf die Vermeidung von Tröpfchen- und Schmierinfektionen gelegt. Es ist also kein Wunder, wenn anfänglich auch im Bereich des Chorgesangs die Antworten zur Ansteckungsvermeidung hier gegeben wurden. Als dann die ersten Stimmen aufkamen, Corona könne in Chören über die Luft übertragen worden sein, gab es Widerstand von Fachleuten und Politikern gegen diese Annahme. Chorische Risikoeinschätzungen und Studien wiesen den Verdacht ebenfalls zunächst zurück. Während sich in der Wissenschaft mehr und mehr die Einsicht breit macht, dass die Luftübertragung – zumal in Chören – eine gewichtige Rolle spielt, legten leider noch bis in den Herbst 2020 Hygienekonzepte für Chöre und Singgruppen nicht das nötige Augenmerk auf entsprechende Wege zur Ansteckungsvermeidung. Mittlerweile hat wohl ein Bewusstseinswandel im deutsch- wie auch englischsprachigen Raum stattgefunden. Aufgrund der Sprachbarrieren scheint das in andersprachigen Ländern leider immer noch nicht genügend der Fall zu sein, wie mir berichtet wird.

Eine Stimme, die in der Anfangszeit der Pandemie und noch bevor die Massenansteckungen überhaupt bekannt waren, die Frage nach der Möglichkeit, ob man sich im Chor anstecken kann, noch klassisch beantwortete, war etwa Dr. Stefan Langenegger, langjähriger Redaktionsleiter von Puls beim Schweizer Fernsehen SRF. Ende Februar glaubte er in einem Experteninternetchat zur besonderen Lage noch guten Gewissens dann Entwarnung gegeben zu können, wenn man die klassisch kommunizierten Schutzmassnahmen einhält, die die Möglichkeit einer Luftübertragung noch nicht einbezogen hatten:

„Wenn die Probe länger als 15 Minuten dauert und die Person nebenan (näher als 2 Meter) selbst krank ist. Beim Singen werden generell keine Tröpfchen ausgeschieden, dies geschieht nur beim Niesen oder beim kräftig Husten.”

Dr. med. Stefan Langenegger, Chefredakteur Puls SFR

In ihrer ersten Fassung stand die Risikoeinschätzung für Musiker des Freiburger Instituts für Musikermedizin der Luftübertragung noch kritisch gegenüber, wobei andererseits bereits zu einer hohen Lüftungsfrequenz aufgerufen wurde, die die Aerosolübertragung doch eigentlich als verhinderungswürdige Möglichkeit voraussetzt. In der nachfolgenden Fassung fand sich die Skepsis dann aufgeweicht und in der bisher letzten Fassung werden nun vermehrt wissenschaftliche Stimmen und Quellen zitiert, die die Luftübertragung verteidigen (Richter und Spahn 2020).

Im Mai erschien eine Studie der Bundeswehruniversität zum Musizieren während der Pandemie von Prof. Dr. Christian Kähler, der darin wertvolle Tipps zur Vermeidung von Ansteckungen in Chören oder Blasmusikgruppen erteilt (Kähler und Hain 2020). Eine ansteckende Virusausbreitung allein übers Singen über 0,5 m hinaus erschien Kähler “äußerst unwahrscheinlich” zu sein. Stattdessen suchte er die Erklärung bei den traditionellen Übertragungswegen, und hat Ähnliches mehrfach in den Medien wiederholt:

“Bei Berichten, die das Singen als Erklärung für die Infektion großer Teile eines Chores anführen, sollte hinterfragt werden, ob nicht das Sozialverhalten der eigentliche Ursprung der Infektion ist. Wenn besonders kontaktfreudige Menschen andere Chormitglieder mit Umarmung und Küsschen begrüßen, sich in der Pause angeregt unterhalten, nach der Probe noch in geselliger Runde abendessen oder einen Wein.”

Prof. Christian Kähler, Aerodynamikexperte

In einem Interview mit BR Klassik schätzte Kähler das Sprechen sogar als ansteckungsgefährdender ein als das Singen:

“Das Singen ist weniger ansteckend als das Spielen von Blasinstrumenten oder das Sprechen. Hier wird häufig Korrelation mit Kausalität verwechselt. Die Fehler werden im Sozialverhalten untereinander gemacht.”

Prof. Christian Kähler

Im Hinblick auf den bekannten Coronaausbruch im Skagit Valley Chorale schlägt auch ein Schweizer Expertenteam in einer Risikoabschätzung der Aerosolübertragung und Nutzen von Maskentragen noch im Juli eine Alternativerklärung zur Aerosolübertragung vor (Sommerstein et al. 2020):

“…Umwelt- und Verhaltensfaktoren können zu Superspreading-Ereignissen führen, was zu einer effektiven Reproduktionsnummer führt, die ähnlich ist wie bei aerosolübertragenen Krankheitserregern beobachtet. Aber das unterstützt nicht unbedingt die Aerosolübertragung: Singen im Chor kann mit einem massiven Ausstoss von Tröpfchen verbunden sein. Verknüpft mit dem engen Abstand zwischen Sängern und schlecht belüfteten Räumen kann dies zu einem R0 führen, der die Aerosolübertragung imitiert.”

Schweizer Expertenteam um PD Dr. med. Rami Sommerstein

In dem letzten mir bekannten grösseren Versuch, die Bedeutung der Aerosolübertragung in ihrer Relevanz zu leugnen, widerspricht der Harvard-Mediziner Michael Klompas immerhin nicht mehr der Annahme, dass die Aerosolübertragung zumindest in Chören für die dortigen Ansteckungscluster verantwortlich war (Klompas et al. 2020):

“Die Befürworter der aerosolbasierten Übertragung zitieren gut dokumentierte Infektionscluster unter Chorteilnehmern, Restaurantpaten und Büroangestellten, die geschlossene Innenräume teilen. Basierend auf der Reproduktionsnummer für SARS-CoV-2 scheinen diese Ereignisse jedoch eher die Ausnahme als die Regel zu sein.”

Prof. Michael Klompas, Epidemiologe

Nichtsdestotrotz haben viele Länder und die WHO (in einem ersten Schritt im Juli noch zögerlich) den Ansteckungsweg über Aerosole erst spät oder noch gar nicht in ihrem Maßnahmenkatalog zur Ansteckungsvermeidung aufgenommen (die Schweiz nach langem Zögern am 4. 11. 2020).

Viele Hygienekonzepte, die fürs Chor- und Gruppensingen erstellt wurden, basierten von Anfang an und zum Teil bis heute noch ausschließlich oder hauptsächlich auf der Vermeidung von Schmier- und Tröpfcheninfektionen. Dabei sollten die Massnahmen besser den Fokus auf die Vermeidung von Aerosolansteckungen legen, wie ich nun zeigen möchte.

3. Warum wir sicher sein können, dass Chöre sich primär über die Luft infiziert haben

Die Summe von Indizien, die bereits im einzelnen durch Alternativerklärungen nur mühsam zu begründen sind, zeigt das die Aerosolübertragung primäre Ansteckungsweg in Chören war und ist.

Ich habe in den beiden letzten Menüpunkten dargelegt, warum immer mehr Indizien dafür sprechen, dass die Luftübertragung eine entscheidende Rolle bei der Ausbreitung der Pandemie spielt und dass für sie in der Gesamtheit bessere Argumente sprechen als für die Tröpfchen- und die Schmierinfektion. Die Massenansteckungen in Chören mit Angriffsraten von über 80 % waren dabei ein wichtiger Baustein, dass der Aerosolinfektion eine grössere Aufmerksamkeit zuteil und das Paradigma von Tröpfchen- und Schmierinfektionen als Hauptverantwortliche Infektionsquellen bei Corona hinterfragt wurde. Ohne wie im Menüpunkt Vergleich Ansteckungswege die Gesamtheit allgemeiner Argumente anzuschauen, die überhaupt für die Luftübertragung von Covid-19 sprechen, bieten viele Ansteckungsfälle in Chören schon selbst genug Indizien, dass hier zumindest der Großteil der Ansteckungen über die Luft stattgefunden haben muss (wenn dadurch natürlich nicht der Einzelfall einer direkten Übertragung über Tröpfchen oder verseuchte Oberflächen ausgeschlossen ist).

  • Zu wenig Möglichkeit zur Ansteckung: Die traditionell vermuteten Ansteckungswege bieten keine glaubhafte Erklärung, wie es zu vielen der mittlerweile bekannten Chor-Superspreadingevents kommen konnte. Dass ein einziger infizierter Sänger (oder auch zwei) mit einer solchen Wucht seine Tröpfchen gleich in einem solchen Ausmaß auf alle anderen Sänger gleichzeitg ergießt und auch im Verlauf der Probe seinen Kopf beim lauten Gesang in alle Richtungen streckt, anstatt zum Chorleiter nach vorne zu singen, so dass sich infolgedessen fast alle gleichzeitig anstecken, klingt nicht gerade plausibel und widerspricht den Erkenntnissen zur Reichweite grosser Tröpfchen beim Singen, Sprechen oder Schreien. Auch ein Dominoprinzip der Form ist ausgeschlossen, dass innerhalb einer Probe ein 2. Bass seinen Nachbarn ansteckt und der wiederum seinen Nachbarn, bis am Ende der Probe der letzte Sopran 1 an der anderen Ecke des Raums angesteckt ist. Das widerspricht schlicht dem Wissen über die Inkubatonszeit und der Latenzzeit (Zeit von der eigenen Ansteckung bis zur Infektiosität) nach der Infektion mit dem Virus von mehreren Tagen. In einer Chorprobe, anders als etwa beim Gruppentanz, kommen sich nie alle Chorsänger nahe. In vielen Chören hatte man im März – für den Skagit Valley Chorale ist dies bezeugt – bereits ziemlich Respekt vor der Möglichkeit einer Corona-Infekton und versuchte sich dementsprechend vorsichtg zu verhalten (vgl. z. B. Miller et al. 2020). Auch nachdem in etlichen Ländern im Sommer Chöre wieder die Arbeit unter Einhaltung von Maßnahmen aufgenommen haben, ist es immer wieder zu Ausbrüchen gekommen, wo die Beteiligten betonen, sich an Abstands- und Hygieneregeln gehalten zu haben (vgl. Betroffene Singgruppen). In vielen Chorproben, wo es zu Ausbrüchen kam, gab es schlicht zu wenig Möglichkeit, sich innerhalb einer Chorprobe auf den traditonell vermuteten Ansteckungswegen zu infizieren. So sieht es auch Aersolforscher Prof. Jose-Luis Jimenez (s. Aerosolübertragung Indizien). Er sagt, es sei höchst unwahrscheinlich, dass die umfangreiche Ausbreitung des Virus bei der Probe nur durch engen Kontakt und berührende Oberfächen stattgefunden haben könnte. Andere Erklärungen als die Übertragung in der Luft seien unwahrscheinlich. Zu Recht fragt Jimenez rhetorisch:

“Wie kann ein Kranker lange genug in der Nähe all dieser Menschen sein, um alle zu infzieren?”

Prof. Jose-Luis Jimenez, Chemieprofessor und Aerosolforscher
  • Zu hoher Infektonsgrad: Aufällig ist auch der massiv hohe Ansteckungsgrad bei vielen Chören. Prof. Raina MacIntyre, australische Seuchenforscherin und Professorin für globale Biosicherheit und Verantwortliche für eine australische Studie zum Singen unter Corona-Bedingungen (Bahl et al. 2020) nannte bereits im Mai zwei charakteristische Beispiele für Corona-Lufübertragungen, Schlachthäuser mit einer hohen Aerosolrate und Chöre. Im Hinblick auf die berühmten Beispiele von Masseninfektionen in Chören kommentierte sie:

„Die Ansteckungsrate, die Prozentzahl, die unter der Gesamtzahl derer, die dort waren, krank wurden, ist unglaublich hoch…70 Prozent plus haben sich angesteckt. Und das ist viel höher, als man es erwarten würde. Selbst in Familien würde man mit höchsten 25 Prozent rechnen, die sich infizieren. Das also legt mir nahe, dass hier durch Aerosole infiziert wurde.”

Prof. Raina MacIntyre, Seuchenexpertin
  • „Chor auf Chor auf Chor“: Immer wieder ist argumentiert worden, die berühmt gewordenen krassen Fälle seien Ausnahmefälle. Als Schauergeschichten hat sie der Musikredakteur Jan Brachmann, der schon früh für Maßnahmenlockerung bei Chören plädiert hat, in der FAZ bezeichnet. Aber wenn die Wahrscheinlichkeit schon so verschwindend gering ist, dass einer allein fast alle Chormitglieder durch seine Nähe anstecken kann oder dass sich die Chormitglieder alle über Berührung einer verseuchten Oberfäche anstecken, dass außerdem der hohe Prozentsatz der Infektionen unwahrscheinlich ist, wie sehr würde man dann erwarten, dass eine Massenansteckung in dem Ausmaß dann auch noch bei einer erklecklichen Anzahl von Chören gleichzeitig aufgetreten ist? Genau darauf macht Prof. Jimenez aufmerksam, wenn er seinen gerade ziterten Erklärungen noch hinzufügt: „vor allem, wenn es Chor auf Chor auf Chor passiert.“ Nicht nur im Frühjahr vor der 1. Welle wiesen Chöre Angriffsraten von über 80 % Infizierten auf, sondern auch nach dem Sommer 2020, wo viele Chöre wieder zu proben begannen (vgl. Menüpunkt Betroffene Singgruppen).
  • Der Probenrhythmus vieler Chöre spricht anteilig auch für Luftübertragung: Es ist vermutet worden, dass die Chöre sich schleichend infiziert haben. Das mag im Einzelfall stimmen, wenn etwa ein Chor in einer Konzertphase steckt und mehrere Proben nacheinander hatte. Vielleicht war das so bei dem Gemengd Koor Amsterdam, der auf eine Auführung der Johannespassion von Bach hin probte. Insofern sind Laienchöre in ihrer Konzertphase besonders gefährdet. Profichöre, die täglich proben, sind dies ohnehin. Die (unvollständige aufgelistete) Serie der Profichöre, die sich allein von August bis Oktober 2020 zum Teil in hohem Maß infiziert hat, dokumentiert dies eindrücklich (siehe Betroffene Singgruppen). Aber der normale Probenrhythmus vieler Laienchöre macht eine umfassende Erklärung durch die traditonell genannten Übertragungswege unwahrscheinlich, denn in der Regel sehen sich die meisten Chorsänger nur einmal die Woche in der Chorprobe. Man müsste sich vorstellen, dass in einer ersten Probe zunächst ein einziger Infizierter einen kleinen Kreis von weiteren Sängern angesteckt hat, die dann bei der nächsten Probe den Rest so flächendeckend infiziert häten, dass, wie es bei den genannten Chören der Fall war, am Ende ein großer Teil aus allen Registern das Virus eingefangen hate. Dafür müsste Patient Zero aber das Virus sofort in der ersten Probe ausgewogen verteilt haben. Alle in der ersten Woche Angesteckten, sowie auch Patent Zero, der vor seiner Ansteckung bereits mehrere Tage Inkubationszeit seit seiner eigenen Ansteckung hinter sich hatte, müssten auch in der nächsten Woche noch keinerlei verdächtige Anzeichen entwickelt haben, wo doch die mittlere Inkubationszeit der Krankheit bei 5-6 Tagen liegt und bei manchen schon nach 1 bis 2 Tagen Symptome (im anderen Extremfall freilich auch erst nach 24 Tagen) aufreten. Auch wenn sich manche der betroffenen Chöre mehr als einmal die Woche getroffen haben und in einer Konzertphase steckten, ist die Erklärung über viral verseuchte Luft bei den Choransteckungen ungleich eleganter.
  • Wo sind die wirklichen Parallelfälle bei nichtsingenden Gruppen?: Ein äußerst gewichtiges Argument gegen die normale Ansteckung via Sozialkontakte oder Kontakinfektonen ist die Frage, wo denn eigentlich die wirklichen Parallelfälle zu den Masseninfektionen in Chören sind. Keine der sonstigen üblichen Cluster, die nicht mit Singen zu tun haben: Infektionen in Krankenhäusern, in Alten- und Flüchtlingsheimen, in Minen, in Bars, in überfüllten Bürohäusern, auf Kreuzfahrtschifen, auf Flugzeugträgern usw. bildet auch nur annähernd eine vergleichbare Situation ab. In den meisten der Cluster hatten die Menschen ungleich länger Kontakt zueinander als in den Chören (auch wenn hier in mehreren Fällen ebenfalls Indizien auf Luftübertragung hinweisen). Warum hat es keine Masseninfektionen solcher Dimension, wie sie von Chören berichtet werden, in wöchentlichen Universitätsseminaren, in Mensen oder sonstigen Kantinen, in Gruppenschlafsälen oder in mit Chören besser vergleichbaren nichtsingenden Gruppen wie Streichorchester, Kegelclubs, Theater-, Zeichen-, Landfrauengruppen, Schützen- oder Politkvereinen usw. gegeben, wo die Menschen weder gesungen oder übermäßig viel gleichzeitig gesprochen und auch nicht viel berührt haben? Oder warum sollten Massenausbrüche in diesen Gruppen, wenn sie denn analog zu denen in Chören stattfanden, nicht mit gleicher Aufmerksamkeit bedacht worden sein? Warum waren es immer wieder ausgerechnet Gesangsgruppen, über die berichtet wurde, außer vielleicht noch in bescheidenerem Ausmaß über Bläsergruppen, wo die Tröpfchen- und Aerosolprodukton ebenfalls eine starke Rolle spielt, oder über Fitnessstudios oder Tanzgruppen, wo viele Aerosole durch Schwitzen entstehen und Menschen und wo Berührungen untereinander oder gegebenenfalls auch mit verseuchten Flächen eine Rolle spielen könnten? Oder fehlen uns hier nur die entsprechenden Informationen? Dann wäre es aber bemerkenswert, dass in Österreich, wo offenbar im Gegensatz zu vielen anderen Ländern eine flächendeckende Analyse zum Beginn der Masseninfektionen gemacht wurde, ausgerechnet die Chöre den 2. Platz der anfänglichen Corona-Hotspots belegen. Auffällig ist auch, dass nach Wiedereröffnung der Opernhäuser und Theater nach den Lockdownpausen der verschiedenen Länder Coronaausbrüche signifikant häufiger und stärker von Opernhäusern als von Theatern berichetet wurden (vgl. Betroffene Singgruppen).

Die besonders gut dokumenterten Corona-Ausbrüche in den genannten Chören in den gerade beschriebenen Konstellationen stellen also (über die im letzten Menüpunkt genannten Indizien) zu Recht das alte Paradigma von der Tröpfchenübertragung auf eine harte Probe. Hier ist nicht die Erklärung, dass Tröpfchen beim Singen besonders weit fliegen, die zielführendste Erklärung, auch nicht, dass alle die gleichen verseuchten Flächen berührt und die Hände dann zu den anfälligen Schleimhäuten im Gesicht geführt haben, sondern die generelle virale Verseuchung der Luft vermittels Aerosole. Dass sich Chorsänger*innen in Chören auf diese Weise zu einem hohen Prozentsatz mit Corona infziert haben, lässt also befürchten, dass sie es weiter tun können, wenn nicht Bedingungen geschaffen werden, die die Chance einer Luftübertragung im Chor minimieren.

Die Frage ist, wie oft es zu solchen chorischen Superspreadingevents kommen kann und welche Bedingungen dafür erfüllt sein müssen. Mitunter von denen, die möglichst schnell einfach wieder zur Tagesordnung übergehen möchten, wird eingewendet, letztlich sei die Zahl der infizierten Chöre weltweit überschaubar gewesen (Kennen wir diese auch nur annähernd?). Tatsächlich aber bilden die bislang international bekannt gewordenen „Schauergeschichten“ von Masseninfektionen in Chören nur die Spitze eines Eisbergs ab. Selbst krassere Fälle wurden nicht allgemein bekannt und von vielen Mehrfachinfektonen in Chören, die sich im März und dann nach Öffnung der Chöre in verschiedenen Ländern im Sommer infziert haben, werden wir wohl nie erfahren. Hinzu kommt noch, dass sich die meisten der oben genannten Chöre in einem Zeitraum von überhaupt nur 1 bis 2 Wochen infiziert haben. Über bekannt gewordene Corona-Ausbrüche in Singgruppen informiere ich im Menüpunkt Betroffene Singgruppen.

Wenn Corona in weiteren Wellen wiederkehrt oder wir uns dauerhaft irgendwie auf die Krankheit einstellen müssten, und solange uns nicht irgendwann die Herdenimmunität via Impfung oder geeignete Medikamente vor der Krankheit schützt, stehen wir vor der existenziellen Frage, wie schnell, wie leicht und wie häufg es zu Parallelsituationen wie den oben beschriebenen kommen kann, wie sich das übers Jahr oder gar über die Jahre verteilt auswirken würde und bis zu welcher Grenze wir uns mit unserem Tun in den Chören vortasten können, ohne zu sehr in Gefahr zu geraten – und wann die altbekannte Musikpraxis, die bis zum März normal war, so wie wir sie kannten und wie wir sie wieder ausüben wollen, wieder möglich sein wird. Man kann nur hoffen, dass Impfungen und Medikamentenentwicklung den Zustand eines freien Gruppensingens bald wieder ermöglichen werden.

4. Spezielle Untersuchungen zu Tröpfchen, Aerosolen und Luftbewegungen beim Singen

Als Massenausbrüche beim Gruppengesang mit besonders hohen Ansteckungsraten und in besonders großen Räumen auf sich aufmerksam machten, realisierte man, dass beim Singen offenbar ein besonderes Ansteckungsrisiko besteht und wollte der Sache wissenschaftlich auf den Grund gehen. So entstanden auf der einen Seite eine ganze Reihe Forschungsprojekte, die das Ausbreitungsverhalten von Tröpfchen und Aerosolen unter die Lupe nahmen und auf der anderen Seite solche, die überhaupt das Ausmaß der Aerosolproduktion vermaßen und ob von diesem das Potenzial ausgeht, dass die gesamte Raumluft so mit Viren kontaminiert werden kann, dass die Massenausbrüche durch diesen Umstand erklärt werden können. Besonders bei der zweiten Frage gab es große Abweichungen bei der Beurteilung, die ich im Anschluss an das Vorstellen der Studien diskutieren möchte. Aber auch wenn Forschungen hierzu Widersprüchliches aufweisen, wird in ihrer Zusammenschau klar, dass Singen in viel größerem Maße Aerosole und kleinere Aerosole generiert als Sprechen und Atmen. Auffällig ist, das hier wie dort Forschungsprojekte zum Teil ohne Kenntnis von parallel laufenden oder bereits abgeschlossenen Forschungsprojekten durchgeführt wurden, aber auch zum Teil ohne Kenntnis bereits schon vorhandener Forschung, die hier erhellend hätte mitwirken können. Vielleicht kann Forschenden diese Seite auch einen Überblick geben und Nützliches zum weiteren Forschen beisteuern.

a) Untersuchungen und Berechnungen zum Ausbreitungsverhalten von Aerosolen und Tröpfchen beim Singen (und beim Sprechen) – die Suche nach der optimierten Sicherheitsdistanz

Nach Ausbruch der Pandemie haben eine Reihe von Wissenschaftlern Untersuchungen und Berechnungen zum Ausbreitungsverhalten von Aerosolen und Tröpfchen durchgeführt. Das dahinter stehende Interesse war natürlich, ab welch einem Abstand wir Singende geschützt zusammenkommen und singen können und ob das Singen gegenüber anderen Tätigkeiten überhaupt besondere Sicherheitsabstände erfordert. Wenigsten ein Teil der Wissenschaftler ging dabei offenbar nicht davon aus, dass auch die gesamte Raumluft so kontaminiert werden kann, dass ein Ansteckungsrisiko besteht, was, wie wir heute wissen, ja der Fall ist. Ich liste die Forschungsprojekte hier nur auf, wobei zum Teil unter Akkordeonakkuladen noch ausführlichere Darstellungen einzelner Forschungsprojekte gegebenenfalls auch in kritischer Darstellung finden. Eine Auswertung der Ergebnisse zu den günstigen Sicherheitsabständen habe ich ausführlich unter dem Menüpunkt Schutzmaßnahmen vorgenommen. In Kürze: Werden keine weiteren Maßnahmen wie das Tragen von Masken oder eine Abfuhr verbrauchter Luft durch die Decke eingehalten, legen Untersuchungen und Berechnungen einen größeren Sicherheitsabstand nach vorne nahe: 2,5 m nach vorne gegen 1,5 m (ev. auch weniger) zur Seite. Die Gesamtheit der Untersuchungen legt nahe, dass es nicht ausreicht, unmittelbare Luftgeschwindigkeiten oder unmittelbar ankommende Aerosolmengen auf Entfernungen zu messen, sondern auch das weitere Ausbreitungsverhalten der Aerosole im Blick zu haben: Bis zu 6 % der emittierten Aerosole scheinen unmittelbar nach vorne zeitverzögert die 2-m-Marke überschreiten zu können, bevor sie aufsteigen und in der allgemeinen Raumluft aufgehen.

  • Sterz 2020: Im Auftrag des Österreichischen Chorverbands erforschte ein Team um Prof. Fritz Sterz an der Universität Wien bei 2 Laien- und 2 semiprofessionellen Sänger*innen anhand einer eingeatmeten Kochsalzlösung das Ausbreitungsverhalten der Atemluft beim Singen und Atmen, aber auch den Einfluss vom Tragen von Masken und Visieren darauf. Die größte Ausbreitung der Sterz empfahl einen Sicherheitsabstand von 1,5 m beim Singen, und legte das Tragen von Masken optional nahe.
Untersuchung und fotografische Dokumentation von Aerosol- und Kondenswasseremission bei Chor Mitgliedern an der Medizinischen Universität Wien durch Prof. Dr. med Fritz Sterz

Durch den Österreichischen Chorverband veranlasst wurde im Mai 2020 an der Medizinischen Universtität Wien unter Leitung von Prof. Dr. med. Fritz Sterz bei 4 Chorsängern, darunter 2 Amateuren und 2 semiprofessionellen Sängern mit Gesangsvorbildung, die Aerosol- und Kondenswasseremission beim Singen und Atmen vermessen. Dazu wurde den Probanten eine zerstäubte 0,9-prozentige Kochsalzlösung in die Nase verabreicht, deren Austritt vermessen und fotographisch festgehalten wurde. Ziel der Untersuchung war es zu sehen, in welchem Volumen und Ausmaß sich ähnlich verhaltende Aerosole, die beim Atmen und Singen entstehen, unmittelbar ausbreiten können und welchen Einfluss hierauf Masken und Gesichtsschilde haben.

Ruhiger Atem führte zu einer Nebelwolke um die Sänger von 0,5 m. Beim Bass erreichte sie jedoch beim heftigen Ausatmen 1,5 m nach vorne. Beim Singen waren maximal 0,9 m vor den Probanten nur noch minimale Spuren von Aerosolen zu sehen. Die Aufnahmen zeigten, dass sowohl durch Masken als auch durch Gesichtsschilde die Ausbreitung der Nebelwolke signifikant eingeschränkt wurde.

Sterz schlussfolgerte, dass eine Ausdehnung der Ausatemluft bei Chorsänger*innen von über 1 m nicht zu erwarten sei, dass auf heftiges Ausatmen während des Gruppensingens verzichtet werden sollte und empfahl, das Tragen von Masken während des Singens in Erwägung zu ziehen. Auf der Grundlage dieser Studie wurde der Abstand beim Singen im Schutzkonzept des Österreichischen Chorverband auf 1,5 m festgelegt.

Wohl konnte die Studie die unmittelbare Ausbreitung der Aerosole dokumentieren und zeigen, wo zunächst einmal die grösste Ansteckungsgefährdung stattfindet – das ist ihr großes Plus. Es ist jedoch fraglich, ob die Länge der Sichtbarkeit der Kochsalzlösung, bevor der Nebel nicht mehr in der Luft erkenntbar ist, gleichbedeutend damit ist, wie weit die beim Singen produzierten Aerosole tatsächlich unmittelbar wandern. Andere Studien und Simulationsberechnungen zeigen oder legen nahe, dass die Aerosole vor allem nach vorne noch in konzentrierter Form beim Sprechen oder Singen durchaus die 2-m-Marke überschreiten können (vgl. Aerosol-Studie im Bayrischen Rundfunkchor von Prof. Matthias Echternach – Beschreibung soll unten noch folgen), und dort bei einem längeren Sprech- oder Singakt kulminieren, bevor sie sich in der allgemeinen Raumluft verteilen. Das aber könnte für ein Infektionsgeschehen durchaus von Bedeutung sein. Auch demonstrieren die Bilder der Studie zwar gut, wie Aerosole durch Masken abgebremst werden. Jedoch ist die Grösse der Partikel der zerstäubten Kochsalzlösung nicht angegeben worden und somit nicht bekannt, ob sie mit den sehr kleinen Aerosolen (siehe unten), die beim Singen überwiegend entstehen unmittelbar vergleichbar sind. Alles in allem gibt es auch keinen Hinweise auf die besondere Problematik, dass sich potenziell virenbeladene Aerosole in der Raumluft so stark anreichern können, dass sie zu Infektionen führen können. Die Grenzen der Studie hätten deutlicher gezeigt werden können.

  • Kähler und Hain 2020: Strömungsexperte Prof. Christian Kähler und sein Assistent Dr. Rainer Hain demonstrierten anhand von Experimenten mit Sängern an der Bundeswehruniversität München, dass die von deutschen Institutionen vorsichtshalber geforderten Sicherheitsabstände beim Singen von 3 bis 5 m oder sogar von 6 m keinen wissenschaftlichen Rückhalt haben. Kähler empfahl einen Sicherheitsabstand von 1,5 m radial bei gleichzeitig sehr effektiver Lüftung (Bodenlüftung / Abluft durch die Decke). Kähler sah jedoch damals noch die Hauptgefahr im Chor in der Tröpfcheninfektion beim Lachen und geselligem Umgang und nicht im Singen selbst.
“Musizieren während der Pandemie – was rät die Wissenschaft?” – Studie an der Bundeswehruniversität München (Kähler und Hain, Mai 2020)

Eine Studie zum Musizieren während der Pandemie der Bundeswehruniversität in München unter Leitung von Prof. Dr. Christian Kähler hat viel Aufmerksamkeit erregt und für Kontroversen gesorgt. Prof. Kähler und sein Institut haben sich im Hinblick auf Covid-19 nicht nur mit der Gefährdung beim Musizieren beschäftigt, sondern sich auch anderweitig sehr löblich und gleich auf mehreren Ebenen bei der Erforschung verschiedener Schutzmaßnahmen wie Maskenmaterial oder Luftfiltertechniken und der Ansteckungsvermeidung an Schulen verdient gemacht. Seine Studie zum Musizieren enthält viele kompetente und nützliche Anweisungen, die (vermutlich) bei Befolgung vieler seiner Empfehlungen ein Übertragungsrisiko im Chor stark minimieren können.

Die Studie Kählers zu Gesang und Blasinstrumenten hatte wohl ihren konkreten unmittelbaren Anlass in der Reaktion auf übertriebene Anweisungen der deutschen Verwaltungs-Berufsgenossenschaft, die zu Beginn der Pandemie einen Abstand von 6 m beim Singen und 12 m bei Blasinstrumenten zwecks Vermeidung des Tröpfchenflugs beim Singen und Blasen gefordert hatte, und des Instituts für Musikermedizin, das Sicherheitsabstände beim Singen und Blasen zunächst vorsichtshalber auf 3 bis 5 m beziffert hatte, bevor dies dort auf der Grundlage eigener Messungen mit den Bamberger Sinfonikern zurückgenommen bzw. relativiert wurde. Kähler hält hier mit eigenen Messungen bei Profisängern entgegen, dass beim Singen vielfach bereits nach einem halben Meter keine Luftbewegung mehr nachweisbar sei. Er verweist dabei selbst zu Recht auf die von alten Gesangslehrern empfohlene Praxis, eine Kerze, die man beim Singen vor den Mund hält, solle nicht flackern. Kähler hat zur Veranschaulichung seiner Studie auch ein Video beigefügt:

Allerdings hat Kählers Methodik eine Schwachstelle, auf die der Rundfunkchorsänger David Stingl, der die Materialsammlung zu Singen und Corona unter www.aerosole.net ins Leben gerufen hat, zu Recht aufmerksam macht: Kähler griff nur auf professioneller Sänger zurück, die sehr kontrolliert und nicht verhaucht singen können, die italienische Arien sangen. Dass beeinflusste das Ergebnis von vornherein in Richtung geringer Luftbewegung beim Singen. Das Besondere des Italienischen gegenüber etwa dem Deutschen oder Englischen ist nämlich, dass Konsonanten dort nicht aspiriert werden. D. h. man schiebt nicht wie im Deutschen oder Englischen ein h nach dem Konsonanten ein. Tut man dies und mit Impetus wird die Luft viel weiter verwirbelt. Selbst demonstrierte Stingl dies in einem YouTube-Video mit einem gut gesprochenen Schluss-t. Es sind eben nicht die Vokale und die sanglichen italienische Vokale, die mindestens bei guten Sängern die Luft kaum verwirbeln, sondern Zisch- und Explosivlaute unter den Konsonanten.

Leider haben Kähler und seine Studie, so wertvoll vieler seiner Aussagen sind, auch zur vorübergehenden Verunklarung der Aerosol-Problematik beim Singen beigetragen. Nicht nur meines Erachtens hat Kähler vorschnell eine Übertragung des Virus bei vier damals bekannten Superspreading-Ereignissen in Chören (Berlin D, Mount Vernon US, Amsterdam NL, Haute FR) allein aufgrund des Singens für „höchst unwahrscheinlich“ erklärt und mit seiner Aussage „Singen ist weniger gefährlich als Sprechen“, die mittlerweile weitläufig widerlegt ist, Bewegung in die zum Schweigen verdonnerte Chorszene vieler Länder gebracht, die seine Aussagen – allzu verständlich – dankbar aufgegriffen haben. Kähler hielt seinerzeit Schmier- und Tröpfcheninfektion noch für die vorherrschende Übertragungsart, etwa wenn es etwa im Begleitfilm heisst:

„In einem Chor sollte trotzdem ein Sicherheitsabstand von mindestens 1,5 m eingehalten werden, um sich auch dann wirksam vor einer Tröpfcheninfektion zu schützen, wenn gehustet oder stark gelacht wird“

In der Studie selbst heisst es:

„Bei Berichten, die das Singen als Erklärung für die Infektion großer Teile eines Chores anführen, sollte hinterfragt werden, ob nicht das Sozialverhalten der eigentliche Ursprung der Infektion ist.“

Ich weiss nicht, ob Prof. Kähler mittlerweile seine Haltung korrigiert hat, nachdem sich nun bis heute die Erkenntnis des Superspreadings über die Luft in Chören und anderen Singgruppen immer mehr als wissenschaftliches Ergebnis etabliert und die dahinter stehenden Ansteckungsmechanismen heute viel bekannter sind als noch im Mai 2020. Zumindest rechnet er in neueren Medienbeiträgen selbstverständlich mit der Möglichkeit, dass sich Räume viral anreichern können und hat sogar eigene Studien zur Luftreinigung mit Hepafiltern durchgeführt, die nur auf dem Hintergrund einer viralen Kontaminierung der Luft überhaupt Sinn haben.

Ungeachtet seiner damals wohl nicht richtigen Einschätzung, dass Singen weniger gefährlich sei als Sprechen, die mittlerweile von immer weniger Wissenschaftlern geteilt wird, sollte sein fachliches Knowhow und die praktischen Tipps, die Kähler von Seiten seiner Fachrichtung, der Aerodynamik, beisteuert, bei Chören Beachtung finden. In Konflikt mit Empfehlungen anderer Wissenschaftler gerät höchstens sein Plädoyer gegen Durchzug während des Singens, das primär der Vermeidung von Tröpfcheninfektionen geschuldet ist. Aerosol-Forscher schätzen hier jedoch die Gefahr fehlender Frischluftzufuhr für eine Luftinfektion beim Singen viel höher ein und plädieren im Zweifelsfall eher doch für viel Frischluft und, wenn es sein muss, auch für Durchzug.

In der Studie selbst heisst es:

„Bei Berichten, die das Singen als Erklärung für die Infektion großer Teile eines Chores anführen, sollte hinterfragt werden, ob nicht das Sozialverhalten der eigentliche Ursprung der Infektion ist.“

Ich weiss nicht, ob Prof. Kähler mittlerweile seine Haltung korrigiert hat, nachdem sich nun bis heute die Erkenntnis des Superspreadings über die Luft in Chören und anderen Singgruppen immer mehr als wissenschaftliches Ergebnis etabliert und die dahinter stehenden Ansteckungsmechanismen heute viel bekannter sind als noch im Mai 2020. Zumindest rechnet er in neueren Medienbeiträgen selbstverständlich mit der Möglichkeit, dass sich Räume viral anreichern können und hat sogar eigene Studien zur Luftreinigung mit Hepafiltern durchgeführt, die nur auf dem Hintergrund einer viralen Kontaminierung der Luft überhaupt Sinn haben.

Ungeachtet seiner damals wohl nicht richtigen Einschätzung, dass Singen weniger gefährlich sei als Sprechen, die mittlerweile von immer weniger Wissenschaftlern geteilt wird, sollte sein fachliches Knowhow und die praktischen Tipps, die Kähler von Seiten seiner Fachrichtung, der Aerodynamik, beisteuert, bei Chören Beachtung finden. In Konflikt mit Empfehlungen anderer Wissenschaftler gerät höchstens sein Plädoyer gegen Durchzug während des Singens, das primär der Vermeidung von Tröpfcheninfektionen geschuldet ist. Aerosol-Forscher schätzen hier jedoch die Gefahr fehlender Frischluftzufuhr für eine Luftinfektion beim Singen viel höher ein und plädieren im Zweifelsfall eher doch für viel Frischluft und, wenn es sein muss, auch für Durchzug.

Viele haben Kählers entwarnende Aussagen seinerzeit nach der Veröffentlichung aus dem Kontext gerissen und darauf basierend gefordert, dass man beim Singen wieder zum Normalzustand übergehen könne. Gegen ein solcher Vorgehen wehrt sich Kähler jedoch selbst vehement, gehört er doch mitnichten zu den Verharmlosern der Pandemie, sondern hat stets mit Nachdruck auf den Ernst der Lage verwiesen und zur Etablierung geeigneter Schutzmaßnahmen gedrängt. In der englischen Version der vorliegenden Musiker-Studie (leider nur dort) schreibt Kähler deutlich, dass seine Einschätzungen nur im Gesamtpaket der empfohlenen Schutzmaßnahmen zu haben sind:

„We would like to point out that we consider compliance with all recommendations to be important in order to minimize the probability of infection. If individual recommendations cannot be followed, e.g. because no suitable room is available, what should be done? It is better to find another room that meets the requirements or to stop singing in the choir than to do without individual protective measures.“

  • Becher et al. 2020: An der Bauhaus-Universität in Weimar forschte ein Team um Prof. Conrad Völker anhand von Aufnahmen mit einem Schlierenspiegels, wie und wie weit sich die Luft beim Singen und beim Spielen von Blasinstrumenten bewegt. Auf den Aufnahmen ist deutlich zu erkennen, wie beim Gesang die Luft durch unterschiedliche Konsonanten verwirbelt wird und in verschiedene Winkel nach vorne driftet.
  • Bahl et al. 2020: Ein Team um die australische Seuchenforscherin Raina MacIntyre demonstrierte durch eine hochauflösende Kamera mit Laserlicht und dunklem Hintergrund, wie die Konsonanten zur Entstehung von kleinen Tröpfchen, aber auch Aerosolen führen, die schwerelos zu sein scheinen. Auch hier sieht man, wie die Partikel je nach Konsonant in unterschiedliche Winkel nach vorne abgegeben werden.
  • Nusseck et al. 2020, Richter et al. 2021: Ein Team um die Prfs. Bernhard Richter und Claudia Spahn, den beiden Autoren der Freiburger Risikoabschätzung, untersuchten bei Sängern und Instrumentalisten in Bamberg. Beim Gesang wurden mit drei Sänger*innen 15 Gesangsszenarien mit unterschiedlichen Stilrichtungen untersucht und die Luftbewegungen in 1 m, in 1,5 m und in 2 m Abstand untersucht. Außer beim stimmlosen Blasen wurde zwar noch in 1,5 m Entfernung, nicht aber mehr nach 2 m Entfernung Luftbewegungen gemessen. Das Team empfahl aufgrund dessen einen radialen Sicherheitsabstand von 2 m.
  • Roadmap and guidelines for the resumption of concerts by the Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra (TMSO) 2020: Um abzuschätzen, welche Aufstellungen im Konzertsaal möglich und sicher sind, untersuchte ein Expertenteam um Prof. Tomoaki Okuda (Keio-Universtity) und Dr. Hiroyuki Kunishima (St. Marianna University School of Medicine) die Aerosolausbreitung bei Bläsern und Sängern. Bei 1,8 m Entfernung konnten beim Singen keine Aerosole mehr gemessen werden.
  • Echternach et al. 2020 Ein Team um den Stimmenarzt Prof. Matthias Echternach untersuchte mit Sänger*innen des Bayrischen Rundfunkchors anhand von E-Zigarettenrauch das Ausbreitungsverhalten der Ausatemluft unter verschiedenen Anordnungen. Echternach wies auf die besondere Ausbreitung nach vorne hin und schenkte auch dem Umstand Aufmerksamkeit, dass Aerosole auch nach ihrer unmittelbar Sichtbarmachung noch weiter driften. Auf der Grundlage der Beobachtungen empfahl er einen höheren Abstand nach vorne von 2,5 m, während zur Seite aufgrund der geringen seitlichen Verbreitung der Atemluft ein Abstand von 1,5 sicher zu sein scheint.
  • RIKEN Institut for Computational Intelligence 2020: Forscher des RIKEN haben mit dem japanischen Supercomputer Fugako, dem aktuell leistungsfähigen Rechner der Welt, das Ausbreitungsverhalten von Aerosolen beim Singen und beim Sprechen simuliert. Von besonderem Interesse ist hier die Beobachtung, dass nach 2 m in Sprechrichtung noch bis zu 6 % der Aerosole zeitverzögert eintrudeln können, was einen größeren Sicherheitsabstand nach vorne rechtfertigt.

b) Messungen dokumentieren unterm Strich eine deutlich erhöhte Aerosolproduktion und Virenabgabe beim Singen

Die Wissenschaft konnte zu Beginn der Forschung auf nicht viele Forschungsergebnisse zur Aerosolentstehung beim Gesang zurückgreifen. Im Zuge der Pandemie und der Notlage im Musikbereich haben sich im Verlauf des Jahres 2020 gleich mehrere Forscher international – ihren Abschlussberichten zu entnehmen wohl mehrheitlich ohne Wissen voneinander – an die Arbeit gemacht, die Aerosolproduktion beim Singen zu messen. Dennoch hat die Forschung hier nicht bei Null angefangen. Auf entsprechendende Forschungen möchte ich hier und später noch bei der Diskussion zur Ansteckungsbeurteilung verweisen. Die zum Teil stark abweichenden Ergebnisse haben die Chor- und Sängerszene mitunter ratlos zurückgelassen und eine Diskussion der Ergebnisse und zur besonderen Ansteckungssituation ist im Anschluss an die hier vorgestellen Forschungsergebnisse nötig. Alles in allem deuten die Ergebnisse zum Singen auf eine stärker erhöhte Aerosolekonzentration beim Singen hin. Die Diskussion im nächsten Kapitel zeigt aber, dass hier zur Beurteilung des Ansteckungsrisikos nicht nur die Menge der entstehenden Aerosole wichtig ist, sondern vor allem, woher die Aerosole im Fall eines infizierten die Viren beziehen, die sie tragen können: aus dem Mund oder aus der Lunge? Ein Teil der Lösungen zur Frage des besonderen Ansteckungsrisikos wird hier durch verschiedene Studien schon angerissen.

b1) Wichtige vorpandemische Untersuchungen zur Enstehung von Aerosolen beim Singen, auf die im Zusammenhang mit neueren Untersuchungen zum Singen verwiesen wurde:

Hier möchte ich auf einige vorpandemische Aerosolstudien aufmerksam machen, die unmittelbar oder indirekt aufs Singen abzielen und aus denen bereits wichtige Beobachtungen zum Ansteckungsrisiko beim Singen gewonnen wurden. Diese Beobachtungen sollten freilich nicht für sich stehen bleiben, sondern müssen in einen größeren Kontext einsortiert werden, wie ich das im nächsten Kapitel tun will. Die hier thematisierten Studien wurden bei den aktuelleren Messungen nach Beginn der Pandemie zum Teil zu Rate gezogen. Es gibt weitere Studien, die das Sprechen, nicht aber das Singen untersucht haben und die ich vielleicht noch nachliefere. Bei der Diskussion um das Ansteckungsrisiko im nächsten Kapitel nenne ich noch weitere für das Ansteckungsrisiko beim Singen relevante Studien.

  • Loudon und Roberts 1966: Auf dem Hintergrund von Tuberkuloseausbrüchen, bei denen der Verdacht aufkam, dass das Singen ein besonderer Ansteckungskatalysator sein könnte, wurde von einem Forscherduo erstmals die Aerosolproduktion beim Singen vermessen und in Relation zur Aerosolproduktion beim Husten und beim Sprechen gestellt. Die Forscher diagnostizierten, dass beim Singen nach einer halben Stunde noch 6-mal so viele Tröpfchenkerne in der Luft verblieben wie beim Sprechen. Es handelt sich bei dieser Studie um die einzige vorpandemische Aerosolstudie konkret zum Singen.
  • Johnson et Morawska 2009; Morawska et al. 2009, Johnson et al. 2011: Forscherteams in verschiedener Zusammensetzung um die Aerosolwissenschaftler Lidia Morawska (die zusammen mit dem Virologen Donald Milton im Sommer 2020 den von 239 Wissenschaftlern unterzeichneten Brief an die WHO verfasste, endlich die Aerosolübertragung ernstzunehmen) und Graham Richard Johnson publizierten zwischen 2009 und 2011 die Ergebnisse diverser Studien zur Aerosolproduktion im Respirationstrakt mit und ohne Lautproduktion. Die Forscher entdeckten einen speziellen Mechanismus der Aerosolproduktion beim Einatmen und zeigten auf, dass bei der schnellen Einatmung, wie sie beim Singen zum Tragen kommt, 2 bis 3 x soviel Aerosole entstehend, während sie bei der länger gestreckten Ausatmung, wie sie ebenfalls dem Singen entspricht, im Schnitt die 6-fache Menge diagnostizierten. Sie zeigten, dass die Lautgebung mehr Aerosole produziert als Husten. Sie versuchten transparent zu machen, auf welche Arten Aerosole bei der Lautgebung entstehen (nämlich durch die Einatmung, durch die Stimmbänder und durch die Artikulation) und in welcher Relation diese Aerosole stehen. Das Auseinanderhalten dieser Faktoren ist von sehr wichtiger Bedeutung für die Beurteilung des Ansteckungsrisikos beim Singen, wie ich im nächsten Kapitel zeigen möchte.
  • Asadi et al. 2019: Ein interdisziplinäres Forscherteam der University of California um den Chemieprofessor William Ristenpart fand 2019 heraus, dass die Aerosolproduktion bei höherer Lautstärke deutlich zunimmt.
  • Asadi et al. 2020: Im Wesentlichen das gleiche Forscherteam fand sich noch einmal zusammen und untersuchte noch vor Ausbruch der Pandemie die Änderung der Aerosolentwicklung bei der Lautgebung abhängig von der Änderung der Vokale und Konsonanten.

1) die Entdeckung, dass die Grösse der durch Singen generierten Aerosole entscheidend für die Fähigkeit einer Luftübertragung sein könnte

Wichtig war die Erkenntnis, dass Singen offenbar sehr viele kleine Aerosole generierte: Aerosole unter 2,9 Mikrometer Durchmesser machten bei den Messungen von Loudon und Roberts beim Singen mehr als ein Drittel der gesamten Tröpfchenverteilung aus, beim Husten nur ein Viertel und beim Sprechen gerade einmal 4,4 %. Loudon und Roberts machten die wichtige Beobachtung, dass sich der prozentuale Anteil der Tröpfchenkerne, die sich nach 30 Minuten noch in der Luft fanden, 6-mal höher war als beim Sprechen und annähernd so hoch wie beim Husten. Aufgrund der Beobachtungen waren Loudon und Roberts geneigt, der These von Bates von der Stimme als effektivem Vernebeler von Aerosolen, die besonders geeignet für Krankheitsübertragung über die Luft sein soll, zuzustimmen.

Loudon hatte wie gerade beschrieben 1967 zwar die Feinverneblung von Tröpfchen durch Gesang festgestellt sowie auch, dass prozentual beim Singen vielmehr Tröpfchenkerne in der Luft verbleiben als beim Sprechen. Insgesamt maß er aber wenigere Tröpfchen und Aerosole beim Singen. Andere Messungen aus jüngster Zeit relativerten diese Aussage jedoch, und mehrere Messungen ergaben eine deutlich erhöhte Aerosolemission beim Singen gegenüber dem Sprechen. Demnach wäre die Ursache nicht nur in der Qualität (der Größe) der Aerosole zu suchen, sondern auch in der Quantität dieser kleinen Teilchen.

Da auch wie schon gesagt auffällige weitere Tuberkuloseausbrüche in Chören dokumentiert waren, untersuchten der Medizinprofessor Robert Loudon und die Medizintechnikerin Rena M. Roberts den Tröpfchenpartikelausstoß beim Singen mit seinerzeit modernsten Mitteln (Loudon und Roberts 1966) kam zu dem Ergebnis, das Singen in der Quantität der Tröpfchenkerne, die nach der Verdunstung der Flüssigkeit in Aerosolen noch in der Luft zurückbleibt), der des Hustens ähnlich war. Bezug nehmend auf die Theorie von Bates von den Stimmbändern als besonders effektivem Aerosolgenerator und unter explizitem Verweis auf seine Messtechnik schreibt Loudon:

„Unsere Beobachtung würden diese These unterstützen. Die Anzahl der Tröpfchen, die während des Singens entstand, war zwar geringer als die Zahl, die während des lauten Sprechens ausgestoßen wurde, aber die Größe der Tröpfchen, die während des Singens vertrieben wurden, deutete auf ein größeres Potenzial ihrerseits für eine anhaltende Luftübertragung hin. Darüber hinaus würden die kleineren Mengen der erzeugten Tröpfchen bei einem Einatmen eher eine Infektion auslösen… Singen erzeugte Tröpfchenwolken, die der Größe beim Husten ähneln, der wohl wichtigste Mechanismus bei der Übertragung von Tröpfchen mit infektiösem Potenzial. Die während des Singens aufgezeichneten Luftdurchflussraten waren niedriger als die, die während des lauten Sprechens oder Schreiens der beiden Probanden, die kein Stimmtraining hatten, aufgezeichnet wurden; die Raten während des Singens durch das Subjekt, das Gesangstraining hatte, waren gleich oder höher als die während des lauten Sprechens…”

Team Loudon und Roberts

2.) Entdeckung, dass die Aerosolmenge mit der Lautstärke einer Lautäußerung in aller Regel zunimmt

Eine interdisziplinäre Studie an der University of California um Medizinerin PD Dr. Sima Asadi und Chemieprofessor William Ristenpart, die sich mit der Aerosolproduktion beim Sprechen und Husten befasste, lieferte 2018/19 einen weiteren Baustein zur Unterstützung der These, dass Gesang die Stimmbänder zu besonders effektiven Tröpfchenvernebelern werden lässt (Asadi et al. 2019). Die Forscher interessierte an erster Stelle in Ergänzung zu älteren Aerosolmessungen der Einfluss von Lautstärke. Hier stellten sie fest, dass die Aerosolproduktion desto höher war, je lauter gesprochen wurde.

Mehrere der im Folgenden als Reaktion auf den Ausbruch der Pandemie angestellten Studien zum Singen bestätigen die Zunahme der Aerosolproduktion bei anwachsender Lautstärke – allerdings nicht ohne Ausnahme. Im professionellen Gesang scheint (nur) mitunter die Aerosolmenge bei Steigerungen im hohen Lautstärkebereich zu stagnieren (Mürbe et al. 2020) und zum Teil sogar zurückzugehen (Eiche 2020). Das könnte daran liegen, dass die höhere Lautstärke nicht durch eine noch stärkere Schwingung der Stimmbänder, sondern durch bewusste Schließung der Stimmbänder und eine bessere Ausnutzung von Resonanzen erzeugt wird. Laut und laut ist demnach nicht das gleiche, wenn man die Lautstärke beim professionellen Gesang mit einer ähnlichen Lautstärke im nichtprofessionellen Bereich vergleichen würden, wo unausgebildete Laiensänger*innen beim lauten Singen schon einmal zum Schreien neigen.

Im Wesentlichen die gleichen Wissenschaftler fanden sich danach und noch ohne den Hintergrund der Pandemie noch einmal zu einer ergänzenden Studie zusammen zusammen, bei der sie den Einfluss von verschiedenen Konsonanten und Vokalen auf die Aerosolproduktion beim Sprechen untersuchten (Asadi 2020). Die Studie zeigt erneut, wie effektiv die Stimmbänder in der Lage sind, Aerosole zu vernebeln. Erwartungsgemäß erzeugte der Vokal / i / (“n ee d”, “s ea “) mehr Teilchen als / ɑ / (“s a”)w“ , ‚h o t‘) oder / u / (‚bl ue ‘ , „m ood ”). (Franziska Mathissen-Lohmann griff etwa als Gesangspädogogin bereits auf diesen bereits gefühlt nachvollziehbaren Effekt zurück, in dem sie die Vokale i und u bzw. auch nur das intensive Denken an sie zur Anspannung bzw. zur Entspannung der Stimmbänder während des Singens einsetzte, Matthiesen-Lohmann, Der wissende Sänger, 1963). Hier findet sich dieser pädagogische Ansatz also indirekt physikalisch bestätigt. Bei den Konsonanten zeigte sich auch, dass stimmhafte plosive Konsonanten (z. B. / d /, / b /, / g /) mehr Partikel emittieren als Wörter mit stimmlosen Reibungselementen (z. B. / s /, / h /, / f /).

Als die Pandemie ausbrach, wendete sich das Team an die Öffentlichkeit, legte nahe, warum sich die Krankheit aufgrund der Sprache über die Luft ausbreiten kann (Asadi et. al 2020). Prof. Ristenpart empfahl später im Interview, im Kampf gegen die Pandemie am Besten seine Bibliotheksstimme zu benutzen, um die Übertragung des Virus durch Aerosole auszubremsen.

b2) Konkrete Messungen zur Entstehung von Aerosolemengen beim Singen, die im Zuge der Pandemie vorgenommen wurden, sind mir folgende bekannt:

  • In der Schweiz hat der Arbeitshygieniker Dr. Thomas Eiche zwei Aerosol- und Tröpfchenmessreihen im Zuge der Schutzkonzepterstellung der Schweizer Bühnen bei Profisängern, Chorsängern und Bläsern vorgenommen (Eiche 2020).
  • In Deutschland erforschte ein interdisziplinäres Team um die Prfs. Dirk Mürbe, Audiologe von der Charité, und Martin Kriegel, Aerosolforscher vom Hermann-Rietschel-Institut der TU Berlin, die Partikelproduktion bei Profisängern des RIAS Kammerchors sowie beim Kindergesang (Mürbe et al. 2020; Mürbe et al. 2020)
  • Ebenfalls in Deutschland machte Prof. Eberhard Bodenschatz in Göttingen Messungen zur Aerosolproduktion bei unterschiedlichen Tätigkeiten. Im September und im November wurde ein Zwischenbericht abgegeben, eine Publikation der Daten steht aktuell (Dezember 2020) noch aus. Es gibt jedoch bereit die App Heads auf der Grundlage der Daten, nach der ein Raumansteckungsrisiko berechnet werden kann.
  • In den USA hat eine interdisziplinäres Team Prof. Shelly Miller der University of Colorado Boulder und der University of Maryland im Auftrag und unter finanzieller Förderung von mehr als 125 kulturellen Institution die Risikobedingungen beim Musizieren, insbesondere beim Singen und beim Blasen – inklusive Aerosolmessungen in verschiedenen Situationen – erforscht und die Ergebnisse in drei Etappen von Juli bis November 2020 veröffentlicht. Umfangreiches Material dazu findet sich hier. Im Rahmen einer mehrstufigen Untersuchung zur Gefährdung von Musikern wurde die Aerosolproduktion beim Singen und Blasen unter verschiedenen Bedingungen gemessen.
  • In England untersuchte ein interdisziplinäre Wissenschaftlerteam um den Aerosolforscher Prof. Jonathan Reid 25 professionelle auf ihre Aerosolproduktion beim Atmen, Singen und Sprechen (Gregson et al. 2020).
  • In Schweden hat sich ein Wissenschaftlerteam der Universität Lund der Messung und Auswertung der Aerosolemission bei 12 Sänger*innen, darunter 7 professionelle Opernsänger*innen gewidmet (Alsved et al. 2020).
  • In Norwegen hat die größte Wissenschaftsorganisation des Landes, die SINTEF, anlässlich der Pandemie eine Aerosolmessung bei Sänger*innen vorgenommen und die Unterschiede bei der Aerosolemission zwischen Singen, Rezitieren, Sprechen und Lachen gemessen (Dunker et al. 2020).
  • In Japan haben Wissenschaftler im Dezember 2020 im Auftrage der Japan Association of Classical Music Presenters, die professionelle Musiker, Orchester und Konzertsaalmanager vertritt, eine Aerosolstudie durchgeführt und dabei auch versucht, den möglichen Einfluss unterschiedlicher Sprachen zu erkunden (JAoCMP 2020). Eine weitere vergleichende Aerosoluntersuchung beim Sprechen und Singen, über die The Japan Times berichtete, zu der ich aber keinen Untersuchungsbericht gefunden habe, führte Prof. Akiyoshi Iida, Strömungsforscher an der Toyohashi University of Technology, durch.

Die deutlichsten Unterschiede zwischen Singen und Sprechen streichen die Forscher der Aerosolmessungen bei Sänger*innen initiiert von TU und Charité Berlin heraus. Prof. Martin Kriegel, Aerosolforscher und Leiter des Hermann-Rietschel-Instituts der TU Berlin, äußerte in einem Interview mit dem Spiegel-TV seine anfängliche Überraschung bei der Messreihe über die massiv höhere Aerosolproduktion beim Singen:

“Das war ganz erstaunlich, dass beim Singen deutlich, deutlich mehr Partikel abgegeben werden, als beim normalen Sprechen. Wir haben gesehen, dass wir einen Faktor 50 haben, dass wir 50-mal mehr solche Partikel abgeben in die Raumluft als beim normalen Sprechen. Und vielleicht ist das auch eine Erklärung dafür, dass es bei den in der Öffentlichkeit genannten Chorevents zu erhöhten Infektionszahlen gekommen ist, weil man einfach beim Singen Unmengen mehr an solchen Aerosolen generiert.“

Prof. Martin Kriegel, Aerosolforscher

Nach der Auswertung zweiter Messreihen, eine mit Sängern des RIAS-Kammerchors und eine mit einem Kinderchor stand dann das durchschnittliche Verhältnis der Aerosolproduktion zwischen Atmen-Sprechen-Singen fest: 1 zu 10 zu 300. Die Forschergruppe schreibt dazu aktuell (im Dezember 2020) im Deutschen Ärtzeblatt:

“Während beim Atmen durch die Nase nur sehr geringe Quellstärken, im Mittel 23 Partikel/s, gemessen werden, werden bei einem einzelnen Hustenereignis im Mittel 13 709 Partikel/Hustenereignis abgegeben. Beim Sprechen werden mit 195 Partikel/s knapp 10-mal so viele Partikel gemessen wie beim Atmen durch die Nase, und beim Singen ist die Emission von Aerosolpartikeln gegenüber dem Sprechen 30-fach erhöht.”

Die Wissenschaftler berufen sich darauf, über ein besonders genaues Messequipment zu verfügen. Die auswertende Graphik (Achtung: Darstellung nicht linear!) zeigt die großen Unterschiede auch über die einzelnen Stimmregister hinweg.

Quelle: Berliner Aerosolstudie zum professionallen Chorgesang, Mürbe et al. 2020

Bei der Auswertung von Kinderstimmen gelangen die Berliner Forscher im Rahmen einer weiteren Studie zu ähnlichen Relationen im Hinblick auf die Aerosolproduktion:

Quelle: Berliner Aerosolstudie zum Kindergesang, Mürbe et al. 2020

Zu ähnlichen Ergebnissen scheint eine aufwändige Aerosolmessung an der Universität Göttingen unter Prof. Eberhard Bodenschatz zu kommen. Die Untersuchungsdaten sind noch nicht veröffentlicht (Dezember 2020), aber eine App unter dem Titel Heads (Human Emission of Aerosol and Droplet Statistics) besteht auf der Grundlage dieser Daten, bei der das Ansteckungsrisiko bei unterschiedlichen Tätigkeiten berechnet werden kann. Aus dieser App habe ich, wenn hier keine Fehlüberlegung zugrunde liegt, folgendes Verhältnis bei der Aerosolproduktion herausgelesen. Eventuell sind in die Daten auch Mischüberlegungen eingeflossen, sodass das reale Verhältnis im Einzelfall auch anders aussehen könnte. Erscheinen die Daten, möchte ich dies anpassen.

Atmennormales Sprechenlautes Sprechen Singen Blasinstrument spielenSchreien
13,79,722,886,5873

Lautes Sprechen ergibt demnach eine Erhöhung um den Faktor 9,7 gegenüber dem Atmen, entspricht also in etwa dem, was Johnson et al. 2011 und das Berliner Team (Mürbe et. al 2020) auch angeben. Einfaches Singen, dass hier für die Berechnung einer Chorprobe angenommen wurde, weist nur einen gut 20-fachen Wert des Atmens und gut doppelten Werts des lauten Sprechens auf. Bedenkt man aber, dass lautes Singen, vor allem wenn es mit viel Kraft und Impetus geschieht, mitunter in die Nähe des Schreiens kommen kann, so ahnt man, dass der Berliner Wert (300-mal mehr als beim Atmen) auf dem Weg zum Göttinger Wert beim Schreien (873-mal mehr als beim Atmen) liegt.

Auf diesem Hintergrund erstaunt dann als Pol am anderen Ende die englische Studie eines Forscherteams um den Aerosolwissenschaftler Prof. Jonathan Reid. Die Wissenschaftler haben die Aerosolemission bei 25 professionellen Sänger*innen beim Atmen, Sprechen, Singen abhängig von absoluten Lautstärken vermessen und kommen zu dem Schluss, dass der Unterschied zwischen Singen und Sprechen bei der Aerosolproduktion marginal ist und Unterschiede vielmehr von der Dynamik abhängen. In der Presse wurde das dann vielfach verkauft unter dem Motto: Singen ist nicht gefährlicher als Sprechen – Musik in den Ohren all derer, die besonderen Maßnahmen und Einschränkungen beim Singen als Schikane empfunden haben. In England war der Gruppengesang seinerzeit im Gegensatz zu anderen Ländern noch verboten. Prof. Reid äußerte sich tatsächlich im besagten Sinne nivellierend:

„Unsere Studie hat gezeigt, dass die Übertragung von Viren in kleinen Aerosolpartikeln, die erzeugt werden, wenn jemand singt oder spricht, theoretisch gleichermaßen möglich ist, weil beide Aktivitäten eine ähnliche Anzahl von Partikeln erzeugen“

Prof. Jonathan Reid, Chemieprofessor und Aerosolforscher

Beides, das Ergebnis der Berliner Studie und das der englischen, kann doch wohl ohne weitere Modifikationen nicht gleichzeitig stimmen. Ganz so wie es Prof. Reid sagt, gibt es die Studie aber auch nicht her. Die auswertende Graphiken zeigt beim Singen immer noch eine größere Aerosolproduktion als beim Sprechen. Besonders beim Singen eines einzelnen Tons ist der Ausschlag deutlich höher beim Singen gegenüber dem Sprechen des Geburtstagslieds. Es ist aber wohl beinahe davon auszugehen, dass die professionell ausgebildeten Sänger das Happy Birthday auch deutlich sonorer und gestützter gesprochen haben werden, als wenn das Gleiche eine stimmlich unausgebildete Gruppe getan hätte. Kommt zum gesprochenen Text Ton dazu, d. h. schwingen die Stimmbänder noch gleichmäßiger, ist der Ausschlag auch hier höher und Aerosole scheinen besser vernebelt zu werden. Auffällig bei der Studie ist auch die Beobachtung, dass der Atem einen vergleichbar hohe Aerosolemission bewirken soll wie das Sprechen bei 50 – 60 dB. Wie wurde hier geatmet? Ich möchte im nächsten Kapitel noch zeigen, wie ausschlaggebend es tatsächlich für das Ergebnis ist, wie geatmet wird. Die oben zitierte Beobachtung von Morawska et al. 2009 eines Verhältnisses von 1:10 zwischen Atmen und Sprechen bei der Aerosolproduktion, die genau so auch das Berliner Team gemessen hatte, wird hier also nicht bestätigt.

Quelle: Englische Aerosolstudie, Watson et al. 2020

Die Aerosol-Studie der norwegischen Wissenschaftsorganisation SINTEF zeigt dagegen wieder einen großen Unterschied zwischen Singen und einfachem Sprechen, wobei es keine Dezibel-Angaben dazu gibt, und nähert sich den Ergebnissen der Berliner Messungsserie an (Dunker et. al 2020):

Quelle: Norwegische Aerosolstudie, www.sintef.no

Man sieht in der linken Graphik bei der Auswertung der Aerosolemission einer Sängerin deutlich den starken Ausschlag beim Singen (rot), beim Einsingen (blau) ist der Ausschlag nur etwa halb so groß, aber auch hoch, während das theatralische Rezitieren (also das vermutlich laut gestützte Sprechen, grau) dem Singen gegenüber bereits weit abgeschlagen ist (max. ein Fünftel im Spitzenwert). Einfaches Sprechen (Anfang der gelben Linie links) generiert – wieder analog zur Messung der oben beschriebenen Berliner Forschung – im Verhältnis zum Singen sehr wenig Aerosole, während Lachen (Ende der gelben Linie) in den Bereich des Singens kommt.

Singen führt auch bei der schwedischen Aerosolstudie zum Singen und Sprechen an der Universität Lund die Aerosolproduktion an, allerdings wieder näher an der englischen Studie. Auffällig ist die Beobachtung, dass auch hier der Unterschied zwischen lautem Singen und Atmen nur etwa um den Faktor 10 und drunter liegt, während das Berliner Team einen Wert um 300 bereits beim einfachen Singen ermittelt hatte. Des weiteren ist auffällig dass die unterschiedlichen Tätigkeiten alle eine ähnliche Größenverteilung aufweisen, nur dass sie beim Singen eben größer ist als beim Atmen oder Sprechen.

Bei der Schweizer Aerosolmessung für das Schutzkonzept der Schweizer Bühnen hat der Arbeitshygieniker Dr. Thomas Eiche zwar die absolute Partikelzahl gemessen, in seiner Abschlussdarstellung für das Schutzkonzept aber nur das Volumen der Aerosole ausgewiesen. Da dies wie auch beim normalen Sprechen sehr klein war und sich kaum von dem Basisvolumen an Partikeln im Messraum unterschied, und der Messingenieur (wohl fälschlicherweise, s. u.) die Ansicht vertritt, dass kleine Aerosole unter 3 μm keine Viren tragen können (Eiche 2020), wurde die Aerosolproblematik in der Empfehlung für die Schweizer Bühnen vernachlässigt. Ich komme auf Eiches Überlegungen unten bei der Diskussion zurück. Eine von Eiche im Schutzkonzept der Schweizer Bühnen veröffentlichte Graphik zeigt sowohl für das normale Sprechen als auch für das Singen ein scheinbar vernachlässigbares Volumen an Aerosolen.

Graphik: Th. Eiche – aus dem Schutzkonzept der Schweizer Bühnen www.svtb-astt.ch

Graphik: www.thomaseiche.ch

Im Rahmen einer umfänglichen Untersuchung zu Möglichkeiten, auch unter Pandemie-Bedingungen vorsichtig Musik machen zu können, die von über 100 amerikanischen Musikervereinigungen in Auftrag gegeben wurde, wurde auch eine Aerosolmessung bei einer professionellen Sängerin vorgenommen. Allerdings interessierte hier mehr der Einfluss von bremsenden Maßnahmen bei der Aerosolentstehung. Die Wirkung, die hierbei vom Maskentragen ausging, ist erstaunlich. Auch Hepafilter im Raum senkten die unmittelbare Entstehung von Aerosolen um etwa die Hälfte. Ob die Sängerin ein klassisches Kirchenlied oder einen Popsong sang, hatte keinen großen Einfluss auf die Menge der dabei entstehenden Aerosole. Das es offenbar ein gewisses Hintergrundsrauschen bei den Aerosolen im Raum gab, das nie auf Null absank, ist das Verhältnis zwischen Singen und Sprechen nicht perfekt abzulesen. Es zeigt sich aber, dass der Ausschlag gebenüber dem Hintergrundsrauschen beim Sprechen sehr viel niedriger ist als beim Singen.

Quelle: Performing Arts Aerosol Study – Round one preliminary results

Viermal mehr Aerosole beim normalen Singen als beim normalen Sprechen diagnostiziert eine japanische Aerosoluntersuchung durch Prof. Akiyoshi Iida, Strömungsforscher an der Toyohashi University of Technology. Die Untersuchung reagiert auf die vermehrten Ausbrüche in japanischen Karaokebars am Beginn der Pandemie. Wird beim Singen noch gegessen und getrunken vergrößere sich die Anzahl der entstehenden Partikel um den Faktor 14 gegenüber dem normalen Sprechen. So berichtet The Japan Times. Ein Forschungsbericht dazu liegt mir nicht vor. Ein verdeutlichendes Foto der Versuchsanordnung zeigt, dass die Messung offen gemacht wurde und die Aerosole nicht alle etwa in einem Zylinder oder eine Kabine aufgefangen wurden. Auch ist nicht klar, welches Größenspektrum an Partikeln hier abgedeckt wurde.

Das Bild verdeutlicht die lose Form der Aerosolmessung beim Sprechen und beim Singen an der Toyohashi University of Technology.. Quelle: The Japan Times

Für eine weitere Verwirrung sorgt eine von der Japan Association of Classical Music Presenters in Auftrag gegebene und Ende 2020 durchgeführte Studie zu Aerosolproduktion beim Singen (JAoCMP 2020), weil sie mit anderen hier vorgestellen Forschungsergebnissen in Konflikt gerät. Die beteiligten Forscher ließen acht professionelle Sänger*innen – vier Männer und vier Frauen – nacheinander ein japanisches Kinderlied, einen Ausschnitt aus Beethovens 9. Sinfonie, der Ode an die Freude, und einen Ausschnitt aus Verdis La Traviata singen. Den dort gewonnenen Ergebnissen nach sollen besonders konsonantenreiche Sprachen wie Deutsch und Italienisch beim Singen viele, nämlich etwa doppelt so viele Aerosole generieren wie das Japanische, das weit mehr auf Vokalen beruht und somit weit ungefährlicher zu singen sei: Konsonanten werden hier also verantwortlich gemacht für einen drastischen Anstieg von Aerosolen. Pro Minute wurden beim deutschen Stück 1302, beim italienischen 1166, beim japanischen aber nur 580 Partikel gemessen.

Die Ergebnisse widersprechen den oben diskutierten des australischen Teams (Johnson et al. 2011), welches festgestellt hatte, dass ein langgezogener Vokal viel mehr Aerosole produziert als gesprochene Sprache, und etwa den Ergebnissen des Berliner Teams, dem nach Gesang im Schnitt 30 x mehr Aerosole produzieren soll als Sprache (Mürbe et al. 2020; Mürbe et al. 2020).

Eine mögliche Erklärung dafür könnte – mit aller Vorsicht gesagt – sein, dass das japanische Ergebnis verfälscht ist und die Wissenschaftler einem Trugschluss aufsaßen. Der Trugschluss könnte entweder darin liegen, dass das schlichte japanische Kinderlied nicht mit der gleichen Dynamik gesungen wurde wie die pathetischen Ausschnitte aus Beethovens 9. und Verdis La Traviata, womit die Konsonanten wenig mit dem gemessenen Unterschied zu tun hätten. Das wird auch dadurch nahe gelegt, dass die allermeisten gemessenen Partikel unter 1 μm groß waren, die bei der Artikulation entstehenden Aerosole und Tröpfchen zumeist sehr viel größer sind (s. u.). Dass eine größere Lautstärke mehr Aerosole erzeugt, ist durch andere Messungen ja hinreichend belegt. Ein anderer Trugschluss könnte aber auch darin seine Ursache haben, dass die japanischen Wissenschaftler gemäß ihrer Versuchsanordnung nicht alle Aerosole auffingen, sondern diese nur durch 10 unterschiedlich positionierten Detektoren messen ließen.

Versuchsanordnung bei der japanischen Aerosolmessung: Die schwarze Fläche markiert die Position des Sängers, die roten Kreise die Detektoren, mit denen die Aerosole gemessen wurden. Quelle: JAoCMP 2020
Beispiel der Größenverteilung der beim Singen durch einen Sänger produzierten Partikel. Quelle: JAoCMP 2020

Die nun erhöht gemessenen Wert besonders an den beiden direkt vor den Sängern positionierten Detektoren könnten nun im Sinne einer weiteren Studie, auf die ich bei der Diskussion um die Schutzmaßnahmen beim Thema Günstige Abstände zu sprechen komme, in der Schusslinie eines zielgerichteten Luftstrahls gelegen haben, der durch die Konsonanten und durch sie verursachte Wirbel Aerosole zielgerichteter nach vorne transportiert (Abkarian 2020). Demnach wäre das Mehr an Aerosolen bei deutsch- und französischsprachigem Gesang hauptsächlich diesem zielgerichteten Luftstrahl zu verdanken, während der japanische mehr vokalorientierte Gesang mit weichen Konsonanten dafür sorgte, dass die Luft sich ohne diesen Strahl diffuser ausbreitete und an den Detektoren eben deshalb weniger Aerosole gemessen wurden. Tatsächlich wurde bei einer anderen japanischen Studie mit 20 Laiensänger*innen, Kinder wie Erwachsene festgestellt, dass der japanische Gesang im Einzelfall Luftbewegungen bis 24 Zoll (67 cm) nach vorne, der deutschsprachige aber Luftbewegungen bis 44 Zoll (111 cm) nach vorn verursachte.

Wie auch immer die einzelnen Messungen in den unterschiedlichen Ländern auf einen Nenner zu bringen sind, und wie sich die Ausreißer nach oben und nach unten erklären lassen, der Befund auf der Grundlage mehrerer Forschungen dürfte klar sein: Singen produziert deutlich mehr Aerosole als Sprechen, auch wenn die englische Studie hier das “deutlich” wegnehmen möchte. Die von vielen als Reaktion auf die englische Studie postulierte Analogie zwischen Singen und Sprechen lässt sich nicht halten. Bereits Loudon und Roberts hatten nach einer halben Stunde 6 x soviele Tröpfchenkerne in der Luft gemessen. Ich versuche bei diesem wirklichen verwirrenden Punkt in den nächsten Wochen und Monaten noch mehr Klarheit zu bekommen, und werden den Punkt weiteren Erkenntnissen folgend gegebenenfalls anpassen.

Warum beim Singen mehr Aerosole gemessen werden als beim Sprechen, wird zum Teil auch durch die folgenden Punkte erhellt.

b3) Messungen zeigen, dass beim Singen mehr Viren abgegeben werden als beim Sprechen und Atmen

Coleman et al. 2021: Ein Forscherteam aus Singapur unter Mitwirkung des bekannten amerikanischen SARS-Forschers Donald Milton (einer der beiden Initiatoren des von vielen Wissenschaftlern getragenen Aufrufs an die WHO, die Aerosolübertragung ernst zu nehmen), hat erstmals nicht die reine Aerosolproduktion beim Sprechen, Singen und Atmen unter die Lupe genommen, sondern sich der Messung der innerhalb gewisser Zeitspannen ausgeschiedenen Viren bei diesen Tätigkeiten durch mehrheitlich symptomatisch Infizierte gewidmet (30 min Atmen, 15 min Sprechen, 15 min Singen). Obwohl es beim Singen nur um das Trällern leichter bekannter Melodien ging, war die durchschnittliche Virenverteilung beim Singen mit 54 % gegenüber 40 % beim Sprechen und 7 % beim Atmen am höchsten (Man hätte gerne gewusst, wie sich Dynamik und langgezogene Gesangsphrasen auf die Virenemission ausgewirken). Bei einigen Probanten konnten Viren überhaupt nur beim Singen aufgefangen werden. Die Forscher weisen darauf hin, dass feine Aerosole viel mehr Viren enthielten als größere Aerosole und Tröpfchen.

5. Diskussion der Hintergründe des Ansteckungsrisikos beim Singen

Dieser Abschnitt ist aktuell unsortiert, befindet sich in der Bearbeitung und wird demnächst neu präsentiert.

Im folgenden Punkt sind zum Teil noch verbleibende Informationen der Erstfassung oder nach und nach ergänzte Informationen stehen geblieben, größtenteils Informationen, die der Beurteilung und dem Verständnis des Ansteckungsrisikos dienen. Diese Punkte sind noch nicht strukturiert und eine Restrukturierung, zu der ich erst nach dem Sommer kommen kann, ist nötig. Zum Teil ist auch Doppeltes stehen geblieben. Daher vorab und in Kürze zusammengefasst, welche Aussagen in der noch folgenden Darstellung geplant sind.

Je nach Einschätzung von Wissenschaftlern birgt die Lautstärke, die Atmung oder eine konsonantenreiche Sprache wie das Deutsche eine besonderes Ansteckungsrisiko beim Singen. Ich habe mich lange und intensiv mit diesen widersprüchlichen Einschätzungen und ihren möglichen Ursachen auseinandergesetzt und komme zu folgenden Schlüssen.

Bei vielen der dargestellten Untersuchungen wurden einfach die pauschale Aerosolmenge und/oder das Volumen der Aerosole gemessen abhängig möglicherweise von den ein oder anderen Variablen. Dabei wurde angenommen, dass durch die Relationen bei der Aerosolproduktion Rückschlüsse auf das Infektionsrisiko beim Sprechen und Singen gezogen werden können. Das ist aber wohl nur zum Teil möglich. Denn viele Untersuchungen haben verschiedene äußerst wichtige Faktoren nicht berücksichtigt,

  1. dass sich die Aerosolmenge bei jeder Lautäußerung aus drei verschiedenen Arten der Aerosolproduktion zusammensetzt, deren zahlenmäßige Relation sehr unterschiedlich groß sein kann, was für eine Ansteckungsbeurteilung sehr wichtig ist: Die Aerosolmengen beim Sprechen und beim Singen besteht a) aus durch ein Platzen eines Flüssigkeitsfilms auf den Bronchiolen bei der Einatmung generierten Aerosolen mehrheitlich zwischen 0,2 und 0,8 μm , b) aus durch die Schwingung der Stimmbänder generierten Aerosolen einer Größe von durchschnittlich etwa 1,8 μm und c) aus bei Artikulation genererierten Aerosolen von ca. 1 bis zu 100 oder 300 μm (wo sie in ballistische Tröpfchen übergehen);
  2. dass die abgegebenen Aerosole im Infektionsfall die Viren nicht nur aus einer Quelle beziehen: Bei der Artikulation und bei der Stimmbandvernebelung werden Aerosole mit Viren hauptsächlich aus dem Schleim des Mundes abgegeben, während die Atmung die Viren direkt und vermutlich in viel größeren Mengen aus der Lunge beziehen kann
  3. dass eine direkte Infektion über die Tiefe der Lunge am gefährlichsten ist und dafür nur ca. ein Tausendstel der Virenmenge gegenüber der Virenmenge benötigt, die für eine Infektion über die Mund und Nasenschleimhäute benötigt wird, dass es aber physikalische und biochemische Siebverfahren gibt, die nur Aerosole einer Größe von 1 μm ermöglichen, bis in die Tiefe der Lunge (zu den Lungenbläschen ) vorzudringen; auch wenn man berücksichtigt, dass Aerosole durch Dehydrierung ein Drittel ihres Durchmessers einbüßen, ist der Großteil der lungenbläschengängigen Aerosole durch die Einatmung generiert, ein Teil durch die Stimmbandvernebelung und nur ein geringer Teil durch die Artikulation;
  4. dass auf der Grundlage vieler empirischer Beobachtungen klar ist, dass nicht nur SARS-CoV-2-Viren, sondern auch viele andere Krankheitserreger sehr stark bevorzugt auf kleinen Aerosolen zumeist deutlich unter 1 μm (aber auch knapp über 1 μm), aber eben nicht auf größeren Aerosolen gefunden wurden, wo sie statistisch viel häufiger zu erwarten wären;
  5. dass der Anteil der aus der Lunge abgegebenen Aerosole atmungstechnisch und krankheitsbedingt extremen Schwankungen unterliegt: bei der ruhigen Atmung werden nur wenige Dutzend Aerosole abgegeben (bei der Berliner Messung waren es im Schnitt nur 23 pro Atemzug), beim Verbrauchen bis Auspressen der Restluft können jedoch bis zu 10.000 Aerosole pro Liter Ausatmung abgegeben werden

Der normale Verbrauch von Restluft beim Singen entweder durch das Aussingen langer Phrasen oder durch lautes Singen, erklärt meines Erachtens besser die Ansteckungsereignisse in Singgruppen als der bloße Verweis auf Lautstärke und viel mehr noch als der Verweis auf Konsonantenreichtum. Daher der Verdacht, der noch besser untermauert werden müsste: Das starke Ansteigen der Aerosolmenge bei hohen Lautstärken vermittelt zwar den Eindruck, als würde hier besonders viel Schleim vernebelt. Jedoch erliegt man bei der Annahme, dass diese höhere Flüssigkeitsvernebelung das Risiko und den Anstieg der Aerosolmenge erklärt, meines Erachtens einer Täuschung: Zwar wird wohl die vernebelte Schleimmenge bei stärkerer Betätigung der Stimmbänder tatsächlich stärker ansteigen. Aber das erklärt vermutlich nicht das Ausmaß der Mengensteigerung. Schon gar nicht reicht oft meines Erachtens die bloße Masse des vernebelten Schleims aus, um die vielfach hohen Ansteckungsraten beim Singen zu erklären. Denn der Mundschleim trägt (trug vor Delta?) außer bei einem Superspreader nicht genügend Viren für eine raumfüllendes Ansteckungspotenzial. Tatsächlich ist eine hohe Lautstärkeproduktion kaum möglich ohne eine stärkere Kompression des Körpers, bei der automatisch viel mehr Luft und somit auch Lungenaerosole ausgeatmet werden. Bei sehr hohen Lautstärken wird demzufolge mit dem Singen auf der Restluft operiert. Es ist also anzunehmen, dass die große Aerosolemenge bei hohen Lautstärken maßgeblich durch die Ausatemmenge beeinflusst wird, und die dabei notwendigerweise ausgeatmeten Lungenaerosole haben wohl ein viel höheres Ansteckungspotenzial. Das Operieren im Restluftbereich beim Singen verknüpft mit der mehr Aerosole produzierenden Schnappatmung im Chor unterscheidet sich damit wohl stark von den meisten üblichen Sprechsituationen.

Es ist wohl richtig, dass eine hohe Lautstärke das Ansteckungsrisiko befördert. Jedoch tut dies wohl auch das Aussingen langer Phrasen, die dann nicht einmal laut zu sein brauchen, das schnelle Atmen während des Singens und das Aufbrauchen der Luft beim Chorgesang. Die Artikulation dürfte dagegen außerhalb der Spuckweite nur einen sehr geringen Einfluss auf das Infektionsrisiko haben, weil nur wenige Aerosole eine Größe erlangen, die die Lungen erreichen kann und die Artikulation die Viren allenfalls aus dem Speichel bezieht, der weniger Viren absondert als die Ausatmung. D. h. Konsonantenreiche Sprachen wären somit gegen entsprechende Einschätzung von Wissenschaftlern kaum riskanter als annähernd konsonantenlose. Am risikoärmsten wäre demnach das leise Singen kurzer Phrasen mit bequemen Atempausen. Aus diesem Hintergrundwissen entsprechende Handlungsanweisungen für den Chorgesang abzuleiten, scheint mir weitgehend absurd, auch wenn das englische Gesundheitsministerium aktuell rät, leise und mit Mikros zu singen. Singen ist oft genug Ausdruck der Freude. Diese Freude nur leise, in kurzen Phrasen und versehen möglichst bequemen und ruhigen Atempausen auszudrücken, ergibt keinen Sinn. Langgezogene Phrasen gehören zur Musik und können viele Emotionen transportieren. Auf sie zu verzichten, tötet schlicht die Musik. So ergibt es mehr Sinn, eine größere Sicherheit durch Impfung und durch die vorläufige Beibehaltung der so genannten nicht pharmazeutischen Maßnahmen zu schaffen.

a) Die These von der Singstimme als besonders effektivem Aerosolvernebeler

Ich habe oben auf die Auswertung eines Ausbruchs von Tuberkulose in einem Internat durch ein Team um den Tuberkuloseforscher Joseph Bates aufmerksam gemacht. Bates vermutete im Abschlussbericht, dass das Singen selbst die Ursache sei und stellte erstmals die Hypothese auf, dass der Vorgang des Singens eine besonders effektive Form einer Tröpfchenvernebelung sein könnte:

“Die höhere Infektionsrate unter den Chormitgliedern in der Schule legt nahe, dass Singen sehr effektiv bei der Herstellung eines feinpartikeligen infektiösen Aerosols sein kann… Es kann sein, dass ein vibrierender Stimmakkord, gebadet in einer Lösung mit Tuberkel-Bacilli, als ausgezeichneter Generator von feinen Partikeln fungiert. Wenn eine konstante Schwingungsfrequenz für mehrere Sekunden aufrechterhalten wird, könnte ein Aerosol mit vielen Partikeln von ungefähr der gleichen Größe entstehen. In diesem Moment können Mund und Zunge so positioniert sein, dass Partikel austreten mit einem Minimum an Interferenz. Es scheint durchaus möglich, dass der kräftige Gesang ein effektiver Generator von feinsten Partikeln in großer Menge sein könnte.

Prof. Josef Bates, Tuberkulose-Forscher

Der Chemiker Dr. Thomas Eiche, der anlässlich Corona 2020 in der Schweiz eine Aerosolmessung mit Sängern und Sprechern durchgeführt hat (s. u.), rechnet vor, dass bei Infizierten mit einer durchschnittlichen Viruslast (7 x 106/ml) im Speichel bei dessen Emittierung ein Aerosol unter 5 μm nur eine Wahrscheinlichkeit von 6 Promille hat, ein Virus zu tragen (Eiche 2020). Allerdings scheinen Superspreader Viruslasten in einer Größenordnung von 1011 Viren/ml in der Lunge aufbringen zu können, also das 10.000-fache, und wenn dies für den Speichel auch gilt, dann würde nicht mehr nur jedes 500. der beim Singen besonders üppig produzierten Aerosole unter 5 μm ein Virus tragen können, sondern jedes Aerosol eines bis viele Viren. Wenn man dann bedenkt, dass für eine Infektion über die Lunge mutmaßlich nur weniger hundert SARS-CoV-2-Viren benötigt werden, sind die Superspreadingevents beim Singen über die Vernebelung des Schleims zu Aerosol, das schwerelos im Raum bleibt, bereits sehr gut zu erklären.

c) Weitere vorpandemische Indizien, dass die Aerosolmenge beim Singen grösser ist als beim Sprechen – die Entdeckung der Lunge als effektivem Aerosolgenerator

Ein Team des Instituts für Biophysik beim Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit in Frankfurt um J. Gebhart stellte um 1987/88 fest, dass die Lunge offenbar wie ein effektiver Aerosolgenerator funktioniert und Aerosole einer durchschnittlichen Größe von 0,4 μm (Gebhart et al. 1988). Sie stellten auch fest, dass die Aerosole beim Einatmen entstehen und beim anschließenden Ausatmen freigesetzt werden. Dabei stellten sie auch große Unterschiede bei den Probanten fest. Die einen emittierten nur wenige Dutzend, andere, heute so genannte Superemitter, dagegen Tausende von Aerosolen pro Liter Luft. Die Durchflussrate hatte keinen Einfluss auf die Menge der generierten Partikel, wohl aber der Moment des Ausatmens: Am Beginn des Ausatmens, den ersten 200 ml, wurden keine bis kaum Aerosole gemessen. Am Ende wuchs die Zahl der Aerosole an. Sie mussten also aus der Tiefe der Lunge, und nicht aus deren Randbereichen kommen. Da beim Singen besonders von längeren Phrasen sehr oft die Restluft fast oder ganz verbraucht wird, ist davon auszugehen, dass von dieser Sorte Aerosole, die direkt aus der Tiefe der Lunge kommen, beim Singen ganz besonders viele generiert werden und deren Produktionsmenge nicht vergleichbar ist zum normalen Alttagsgebrauch der Atmung oder der flachen Atmung beim einfachen Sprechen, wo demnach kaum Aerosole dieser Gattung produziert werden.

Eine Untersuchung australischer Forscher ergab 2009, dass es eine Assymmetrie bei Ein- und Ausatmung gibt, was die Geschwindigkeit anbelangt (Morawska et al. 2009): Die Atmung, wie sie beim Singen besonders häufig vorkommt: Die schnelle Einatmung erzeugte 2- bis 3-mal so viele Lungenaerosole von der Sorte, die auch das Team um Gebhart schon gemessen hatte. Die langsame, Ausatmung erzeugte im Schnitt 6-mal, in Spitzen 30-mal soviel dieser kleinen Lungenaerosole. Es ist anzunehmen, dass damit die Ergebnisse des Frankfurter Teams bestätigt wurden, dass mit der Restluft sehr viel mehr Aerosole abgegeben werden. Sie konnten eine deutliche Asymmetrie zwischen den Einatmungsformen feststellen. Während die schnelle Einatmung gegenüber der Normalatmung das 2- bis 3-fache an Aerosolen und die langsame Ausatmung noch einmal das 6-fache an Lungenaerosolen generierte, änderte die bewusst verlangsamte Einatmung und die schnelle Ausatmung gegenüber der Normalatmung nichts. Nicht nur die gestreckte Ausatmung entspricht dem Singen, sondern auch die schnelle Einatmung, die dem Sänger als reflektorische Schnappatmung bekannt ist.

In einer schwedischen Studie ließen Forscher dann ihre Probant*innen gezielt maximal Luft nehmen und auspusten, bis sie die Restluft herausgequetscht hatten. Die Ergebnisse hierbei übertrafen noch einmal alle vorangemachten Beobachtungen: Es wurden jetzt nicht mehr nur wenige Dutzend bis über Tausend Lungenaerosole pro Liter gemessen, sondern in der Größenordnung von 10.000 Aerosole pro Liter (Bake et al. 2017). Daraus lässt sich nun im vergleich mit den übrigen Studien ersehen, dass das Singen mit Restluft unvergleichbar mehr Aerosole produziert als einfach gesprochene Sprache.

Die auf den ersten Blick überraschende Beobachtung von der Lunge als einem Aerosolgenerator wird durch Chemieprofessor und Aerosolforscher William Ristenpart, der diverse Studien zur Aerosolproduktion beim Sprechen leitete (s. u.), so erklärt: Wenn wir ausatmen, bildet die Schleimhautflüssigkeit einen Film tief in unserer sich zusammenziehenden Lunge. Wenn wir einatmen und unsere Lungenwände sich ausdehnen, platzt der Film und erzeugt Aerosolpartikel, die dann in die Welt hinausgehaucht werden. Eine tiefe, langsame Atmung, gefolgt von einem schnellen Ausatmen, produziert die wenigsten Partikel. Die größte Zahl entsteht durch schnelles Einatmen, was zu einem heftigeren Platzen des Films führt, gefolgt von langsamem und längerem Ausatmen. Das sei eine Art der Beschreibung des Singens, sagt Rispenpart, und:

“Die Rate, mit der Sie ein- oder ausatmen, beeinflusst die Anzahl der Partikel, die Sie aussenden.”

Prof. William Ristenpart, Chemieprofessor und Aerosolforscher

Ein besonderes Problem bei dieser Form der Aerosolproduktion ist, dass diese Aerosole besonders klein sind (unter 0,8 μm) und ungehindet in die Lunge anderer eindringen können, die diese Aerosole wieder einatmen (s. u.). Es ist auch gut möglich, dass diese Art der beim Singen stark verstärkten Aerosolerzeugung primär für die Superspreadingevents in Chören primär verantwortlich ist und nicht primär die Vernebelung des Schleims auf den Stimmbändern.

Eine Untersuchung von 2011 zur Größenabmessung von Aerosolen (Johnson et al. 2011), die beim Atmen und Sprechen entstehen, von Wissenschaftlern aus Australien, Honkong und Israel dokumentierte, dass im Vergleich zwischen Atmen, Sprechen, einer Vokalisation eines immerwiederkehrenden gestreckten Vokals “a” und eines freiwilligen Hustens die Vokalisation des Vokals, die dem Singen am nächsten kommt, die größten Mengen von Aerosolen produzierte (doppelt so viel wie Husten). Bei dem gestreckten Vokal werden wohl gleichermaßen mehr Flüssigkeit auf den Stimmbändern zur Aerosolen vernebelt, wie auch mehr Lungenaerosole produziert.

d) Entdeckung, dass die Menge der produzierten Lungenaerosole bei einer Infektion zunimmt

Das Frankfurter Team um J. Gebhart, dass die Entdeckung von der Lunge als einem Aerosolgenerator gemacht hatte (s. o.), registrierte per Zufall bei ihren Messungen etwas Eigentümliches (Gebhart et al. 1988): Bei der ersten Messung erreichte ein Probant Spitzenwerte bei der Produktion von Lungenaerosolen. Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass er krank war. Als er wieder genesen war und die Messung erneut absolvierte, waren die Ergebnisse viel niedriger.

Die hier beiläufig gemachte Entdeckung wurde verifiziert durch ein Forscherteam am Centre Scientifique et Technique du Bâtiment im französischen Caen (Hersen et al. 2008). Das Team untersuchte systematisch die Aerosolemission bei durch Influenza- und Coronaviren Infizierten im Vergleich zu Gesunden und stellten eine massiv höhere Emission von Aerosolen der Größe unter 0,6 m, wie sie üblicherweise durch die Lunge generiert werden fest, bei erkrankten Individuen fest: Infizierte scheinen also deutlich mehr Lungenaerosole zu emittieren als Gesunde. Es ist also daraus wohl zu schließen, dass ein infizierter Sänger, der viel längere Phrasen und mit der Restluft singt, an den Tagen seiner höchsten Viruslast, nämlich 1 bis 2 Tage vor Auftreten der ersten Symptome, speziell durch das Singen besonders infektiös wird.

f) Statisch offener Mund und statische Zungenstellungen lassen beim Singen besser Aerosole durch den Mund nach draußen als beim Sprechen

Vielleicht liegt es nicht nur an einer besseren oder gleichmäßigeren Schwingung beim Singen, dass beim Singen mehr Aerosole gemessen werden als beim Sprechen, sondern vielleicht auch ganz banal an dem Umstand, dass zumindest beim langsamen Singen oder beim Singen langer Töne der Mund offen bleibt und die Zungenstellung einigermaßen gleich bleibt und dadurch Aerosole recht ungehindert nach außen austreten können. Zwar können die generierten Aerosole durch Mund und Nase gleichzeitig austreten, aber Sprache blockiert durch die unterschiedliche Zungenstellung und Mundöffnung immer wieder den Fluss der Aerosole durch den Mund und wird auf diesem Weg wohl Aerosole schon im Mund auffangen. Dieser Umstand unterscheidet wohl das meiste Singen auf längeren Tönen im Chor essenziell vom Sprechen und vom schnell gesprochenen Singen. Das könnte z. B. vielleicht neben einer kontinuierlicheren Schwingung bei längeren Tönen gegenüber einem schnellen Wechsel von Lauten und den durch die langgestreckter Ausatmung bei dem langen Vokalton auch den Unterschied in der Aerosoleproduktion zwischen dem gleichlauten langen Ton und dem gesungenen Happy Birthday in der englischen Studie um Prof. Reid erklären (s. o.).

Entsprechendes zur Mund- und Zungenstellung hielt schon der oben zitierte Tuberkulose-Forscher Joseph Bates in der oben dargestellten These von der Aerosol-Vernebelung durch die Singstimme für erwähnenswert:

“In diesem Moment können Mund und Zunge so positioniert sein, dass Partikel austreten mit einem Minimum an Interferenz.” Prof. Joseph Bates

g) Singen ist in der Regel lauter als die nicht erhobene Sprechstimme

Richtig haben verschiedene Studien den kontinuierlich starken Anstieg der Aerosolproduktion bei wachsender Lautstärke gleich welcher Lauttätigkeit herausgehoben (mit den genannten Ausnahmen im oberen Bereich des Gesangs bei Profisänger*innen, Eiche 2020 und Mürbe 2020). Wer Sprechen und Singen miteinander auf eine Stufe stellt, um das Singen gegenüber dem Sprechen als ähnlich ansteckungsgefährdend zu verteidigen, dürfte sich bereits bei der Grundlautstärke irren. Ein tragender Ton ist von sich aus wohl lauter als mit ähnlichem körperlichen Aufwand gesprochene Sprache.

Wenn nicht gerade vorsichtige Anfänger beim Chorsingen zusammenkommen, ist auch in aller Regel die Grundlautstärke beim Chorgesang gegenüber einer normalen Konversation deutlich höher. Ausnahmen stellen hier allenfalls lautes Reden in Bars bei großem Geräuschpegel, gestütztes Reden durch einen Lehrer oder Vortragenden, beseelte Diskussion am Stammtisch, Anfeuern bei sportlichen Wettkämpfen u. ä. m. dar. Ansonsten reden die meisten Menschen wohl leiser als sie natürlicherweise singen. Und so werden wohl selbst dann weit überdurchschnittlich mehr Aerosole beim Singen produziert, wenn es stimmen würde, das Sprechen und Singen bei gleicher Lautstärke gleichviele Aerosole produzieren.

h) Es sprechen in der Regel nicht so viele gleichzeitig, wie beim Chorgesang gesungen wird

Ein weiterer Punkt, der das Singen zumindest im Chor oder einer sonstigen Singgruppe fundamental von normalen Sprechsituationen unterscheidet, ist der banale Umstand, dass in aller Regel in Sprechsituation kaum je so viele Menschen zusammen gleichzeitig, wie im Chor Menschen gleichzeitig singen. Hierdurch werden in aller Regel viel mehr Aerosole produziert als in normalen Sprechsituationen. D. h. das potenzielle Risiko, sich im Chor anzustecken ist leider im Chor schon allein deshalb viel höher. Und wenn Menschen doch gemeinsam sprechen, wie etwa in der Kirche bei der Liturgie, dann sprechen sie zumeist sehr viel leiser als eine singende Gruppe singt. Natürlich gibt es auch gemeinsame Sprechsituation, wo es viel lauter zugeht, etwa beim gemeinsamen Skandieren von Parole bei Demonstrationen (Diese finden zumeist im Außenbereich statt, wo die Aerosole sofort verdünnt werden). Auf das fast geschriene Sprechen in Bars und Diskotheken beruft man sich besser nicht (auch hier gibt es immerhin noch in der Regel Zuhörer und es sprechen nicht alle gleichzeitig). Auch hier hat es viele Ausbrüche gegeben, die oft aber kaum mehr zu rekonstruieren sind. Eine in Nature erschienene Studie aus Amerika anhand von 100 Mio. Mobilfunkteilnehmern und 5,4 Mrd. Bewegungsdaten pro Stunde hat gezeigt, dass hier Restaurants an erster Stelle der Superspreadingereignisse standen gefolgt von Kirchen (Chang et al. 2020).

Die sängerische Atmung als Begünstigungsfaktor für Ansteckungen (wird mit den Punkten zuvor zusammengeführt)

Besondere Bedingungen der Atmung und der lokalen Immunabwehr in den Atemwegen begünstigen infolge der Größe der Aerosole das Ansteckungsrisiko noch einmal.

Bei der bloßen Gefährdung einer viel höheren Aerosolproduktion beim Singen als beim Sprechen bleibt es leider in Sachen Ansteckungsgefahr beim Singen nicht stehen. Ich habe zwar schon vom Einfluss verschiedener Atemmerkmale wie Schnappatem und langgestreckter Ausatmung auf die Aerosolproduktion geschrieben. Es treten aber noch Mechanismen dazu, die mit der Qualität der beim Singen produzierten Aerosole und der besonderen Atemsituation beim Singen zu tun hat, welche eine Aufnahme dieser Aerosole erleichtert und bei der leider gegenüber einer ruhigen Nasenatmung auch ein wichtiger Teil des Immunschutzes aufgegeben wird.

Meine näheren Nachforschungen zu den folgenden Aspekten, die bei der Diskussion über die erhöhte Aerosolproduktion beim Singen zumeist unterbelichtet bleiben, aber unbedingt berücksichtigt werden sollten, wurden durch einen Vortrag bei einer Expertenbefragung der amerikanischen Chor- und Gesangsverbände zur Zukunft des Singens motiviert. Er wurde gehalten von SARS- und Influenza-Forscher Prof. Donald Milton, der auch einer der beiden federführenden Autoren des Briefs war, in dem im Sommer 2020 239 Wissenschaftler die WHO endlich zur Anerkennung der schlagenden Indizien für eine Luftübertragung von Covid-19 aufgerufen hatten.

a) Singen produziert viel mehr lungenbläschengängige Aerosole als Sprechen

Loudon und Roberts hatten mit ihren Messgeräten des 1960er Jahre noch nur beim Singen (Tabelle rechts) den grössten Prozentanteil (34,1 %) der Flüssigkeitspartikel im Bereich von Kleinstpartikeln unter 2,9 μm gemessen, während beim Sprechen nur 4,4 % auf diesen Bereich entfielen. Spätere Messungen bereits beim Sprechen in Studien, die ich hier nicht bespreche, zeigten, dass Loudon und Roberts mit ihrem Messequipment der 60er-Jahre offenbar Teilchenpartikel im unteren Bereich entgangen sind und der Anteil der Kleinstaerosole auch beim Sprechen höher ist. Die oben gezeigt Graphik der Aerosolmessung von Lund scheint dies auch nahe zu legen (hierunter nochmals abgebildet).

Graphik: Alsved et al 2020

Auch die japanische Messung (JAoCMP 2020, s. o.) bestätigt, dass der absolute Anteil kleiner Aerosole unterhalb von 2 μm, anders als beim Sprechen (und bei Blasinstrumenten) auch volumenmäßig den größten Teil ausmachen. Wenn Sprechen und Singen zur Emission eines ähnlich großen Flüssigkeitsvolumens führen, dann ist wie bereits gesagt unmittelbar einsichtig, dass es beim Singen zahlenmäßig viel mehr Partikel in einem Bereich unter 3 μm, unter 2 μm und auch unter 1 μm geben muss als beim Sprechen.

In der Wissenschaft ist schon länger bekannt, dass Aerosole, die rein physikalische betrachtet direkt die Lungenbläschen erreichen können, nicht größer als 1 bis 2 μm sein dürfen. Manchmal wird der Wert auch etwas höher angegeben. Jedoch gilt wohl, dass die Aerosole je größer sie sind, desto schwerer die Lungenbläschen erreichen können. Bei respiratorischen Tätigkeiten wie Atmen, Sprechen, Singen, Lachen, Schreien werden Aerosole auf dreierlei Weise produziert. Kategorie 1 und 2 sind wohl die für die Übertragung von Covid-19 viel wichtigeren Aerosole als die der Kategorie 3.

  1. Aerosole durch Atmung: Ein Teil der Aerosole, um die obigen Beobachtungen hierzu noch einmal zusammenzufassen, wird durch ein Zerplatzen eines Flüssigkeitsfilms bei der Kontraktion der Lungen in den Bronchiolen hergestellt (Morawska et al. 2009, s. o.). Diese Aerosole sind unter 0,8 μm gross. Sie haben eine durchschnittliche Größe von 0,2 bis 0,6 μm (vgl. Scheuch 2020). Die Atemaerosole dieser 1. Kategorie sind bei allen respiratorischen Tätigkeiten dabei, jedoch sind es wie oben dargestellt beim Singen erheblich mehr als in den meisten anderen Situationen und deutlich mehr als beim Sprechen: Durch schnelles Einatmen, wie es bei der sängerischen Schnappatmung der Fall ist, entsteht offenbar eine größere Explosion des Flüssigkeitsfilms, der die zwei bis dreifache Menge an Aerosolen generiert. Bei einer gestreckten Ausatmung stellten Johnson et Morawska 2009 fest, dass im Schnitt bis zur 6-fachen, in Spitzen bis zum 30-fachen der Atemaerosole durch eine langgestreckte Ausatmunge abgegegen werden (Morawska et al. 2009). Gebhart et al. stellten bereits 1987/88 fest, dass während der ersten 200 ml, also am Anfang der Ausatmung, quasi keine Aerosole abgeschieden werden, während beim immer weiteren langen Ausatmen die Zahl der aus der Lungen emittierten Aerosole immer mehr anwächst (Gebhart et al. 1988). Diese langgestreckte Atmung aber entspricht der Normalität beim Singen, bei der oft sehr viel länger und tiefer ausgeatmet wird wie beim normalen Atmen oder beim Sprechen. Diese dadurch emittierten Aerosole im sehr kleinen Bereich sind alle lungenbläschengängig und können Viren direkt aus der Tiefe der Lunge abholen und nach außen transportieren. Der Mechanismus der sängerischen Atmung kann also besonders viel Viren und besser als das Sprechen aus den infizierten Lungenbereichen nach außen tragen (und auch wieder einatmen lassen s. u.). Dazu kommt noch, dass diese Lungenaerosole, wenn jemand mit Corona infiziert ist, früheren Forschungen mit anderen Viren zufolge noch einmal deutlich mehr produziert werden – und zwar um mehr als eine Größenordnung (vgl. Gebhart et al. 1988; Hersen et al. 2008).
  2. Aerosole durch Stimmbandverneblung: Ein sehr großer Teil der Aerosole wird durch Vernebelung von Flüssigkeit auf den Stimmbändern hergestellt, was wohl am besten geht, wenn diese durchgehend schwingen wie beim Singen, Schreien und eventuell Lachen. Viele dieser offenbar im Durchschnitt etwa 1,8 μm großen Aerosole (Morawska et al. 2009) sind auch um, unter oder etwas über 1 μm groß. Auch von diesen Aerosolen wird angenommen, dass viele von ihnen lungenbläschengängig sind und Viren direkt tief in die Lunge befördern können.
  3. Aerosole und Tröpfchen durch Mund- (Zunge- und Lippen-)tätigkeit: Ein dritter Teil der Aerosole (Tröpfchen bekanntlich ohnehin = feuchte Aussprache) wird im Mund bei der Artikulation verschiedener Konsonanten hergestellt. Diese entstehen wohl mehrheitlich ab einer Größe von 3,5 bis 5 μm, sind oft aber auch viel größer und sind damit wohl nicht mehr unmittelbar lungenbläschengängig, viele nicht einmal nach ihrer Dehydrierung. Das Team um V. Stadnyskyie beschreibt, dass die von ihnen beobachteten Artikulationsaerosole von einer Größe von 12 bis 21 μm auf eine minimale Größe von 4 μm dehydrierten, somit wohl also nicht mehr lungenbläschengängig sind (Stadnyskyie et al. 2020). Diese Art von Aerosolen entsteht bevorzugt beim Sprechen und Schreien, während die meisten Aerosole der Erkenntnis aus den Studien oben folgend wohl der zuvorgenannten Kategorie 2 zu verdanken ist. Das folgende Youtube-Video, das im Zusammenhang mit der oben erwähnten australischen Tröpfchen- und Aerosolstudie beim Singen um Prof. Raina MacIntyre steht, kann einen Eindruck dieser Produktion dieser größeren artikulatorisch generierten Aerosole der 3. Kategorie (vermischt mit größeren Tröpfchen) beim Singen geben.

b) Partikel unter 5 μm werden von den Immunabwehrsystemen der Nase und Bronchien nur noch schwer aufgefangen und können so in die Lunge eingeatmet werden

Atemaerosole (unter 1 μm Durchmesser) und Stimmbandverneblungsaerosole (viele unter 1 bis 2 μm), die beim Singen beide besonders gehäuft auftreten, können leider recht unmittelbar in die Lunge und je nach Größe auch in die Lungenbläschen eingeatmet werden. Größere Tröpfchen ab etwa 2,5 μm fängt die Nase recht effektiv ab und, sollten hier Viren oder Krankheitskeime mitfliegen, werden diese von der Immunabwehr der Nasenschleimhaut an Ort und Stelle abgefangen. Der Körper verfügt ja nicht nur über Möglichkeiten einer pauschalen Immunabwehr, sondern auch über weitere Abwehrsysteme. Als solche fungieren auch Nase, Bronchien und Bronchiolen. Sie verhindern, dass krankheitserregerbeladene Partikel in die Lunge geraten, wo sie viel größeren Schaden anrichten können. Die Lungenbläschen selbst, in der die kleinsten Aerosole unter 1 bis 2 μm gelangen können, verfügen über kein solches gesondertes Immunabwehrsystem mehr. Über die Funktion der Nase als Filter klärt etwa die Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren in einer Broschüre auf:

Bei der Nasenatmung filtern die Schleimhäute der Nase vor allem grobe Partikel, die größer als 2,5 Mikrometer sind, effektiv aus der Atemluft. Die Trägheit ihrer Masse lässt die Partikel in den kurvigen Atemwegen gegen die Wände prallen und die Schwerkraft bewirkt, dass sie sich auf dem Nasenschleim und den Epithelzellen ablagern. Nur wenige Partikel dieser Größegelangen daher auf diesem Wege in die Lunge.

Gelangen also SARS-CoV-2-Viren über Aerosole unter 2,5 μm, wie sie beim Singen in großer Zahl produziert werden in die Lunge, können sie das dortige Gewebe unmittelbar infizieren. Die Zahl der benötigen Viren für eine Ansteckung in der Lunge ist bei SARS-CoV-2 nicht bekannt. Aber Prof. Eugene M. Chudnovsky, der sich auf die Erforschung luftübertragener Krankheiten spezialisiert hat, macht darauf aufmerksam, dass es bei der Influenza nur ein paar Tausend Viren benötigt, um sich über die Lunge anstecken zu können, aber Millionen von Virenkopien, um sich über die peripheren Schleimhäute von Mund, Nase oder Augen zu infizieren. Ließe sich diese Erkenntnis nahe liegend auf SARS-Cov-2-Viren übertragen und bereits ein Tausendstel der Virenmenge, die bei einer Schmierinfektion benötigt werden, würde einen in der Lunge infizieren können, dann würde elegant zu erklären sein, warum es bei Gesangsensembles immer wieder zu Superspreadingevents gekommen ist (nämlich dadurch, dass die Virendosis in der Luft raumdeckend zu hoch war, um vor einer Ansteckung geschützt zu sein).

c) Lungenbläschengängige Aerosole scheinen mehr SARS-CoV-2-Viren zu tragen

Rein intuitiv würde man vielleicht denken, dass in größeren Tröpfchen und Aerosolen rechnerisch viel mehr Viren des SARS-CoV-2-Virus zu finden sein sollten, wenn man die im Speichel vorhandene Virenlast anteilig auf große und kleine Aerosole verteilt. Das würde dazu führen, dass man eher den Tröpfchen oder größeren Aerosolen, wie sie beim Sprechen zu entstehen scheinen, zutraut, infizieren zu können. In einer früheren Arbeit stellte ich selbst diese Rechnung an. Die Rechnung wird aber offenbar durch die Realität überholt, die dokumentiert, dass Krankheitheitserreger, Bakterien wie Viren leider bevorzugt in Aerosolen zu finden sind und dort die Gesamtmenge der Krankheitserreger bzw. der viralen DNA die in größeren Aerosolen und Tröpfchen zum Teil deutlich überwiegt. Ich habe bereits im Menüpunkt Aerosolübertragung Indizien darauf hingewiesen und entsprechende Graphiken abgebildet. Bei der Influenza wurde sogar festgestellt, dass 87 % der Viren in Aerosolen kleiner als 1 μm zu finden sind (Fabian et al. 2008). Und selbst bei den sehr viel größeren Tuberkulose-Bazillen wurden 59 % der Erreger in Aerosolen unter 3,3 μm nachgewiesen. Zwar verlieren auch größere Tröpfchen und Aerosole an Umfang, wenn sie verdunsten. Aber Stadnytskyi et al. 2020, die gezeigt haben, dass Sprechtröpfchen der Größe von 12 bis 21 μm Durchmesser 8 bis 14 Minuten in der Luft verbleiben können, machen darauf aufmerksam, dass sie nur auf eine Größe von 4 μm verdampfen. Somit sind sie nur noch schwerlich lungenbläschengängig

Singen produziert also offenbar nicht nur sehr viel mehr Aerosole im niedrigen Größenbereich als Sprechen, die lungengängig sind. SARS-CoV-2-Viren in der Luft haften auch noch dummerweise bevorzugt an diesen kleineren Aerosolen. Ein nennenswerter Anteil von ihnen kann die tiefen Lungenbläschen also problemlos erreichen und dort sehr vermutlich besonders schwere Infektionen auslösen. Leider könnte eben genau das ein gewichtiger Grund für die dokumentierte Schwere von Corona-Ansteckungen im Chor sein, wo es verschiedentlich unmittelbar zu Todesfällen (bis zu 6 Todesfällen nach einer Probe sind mir bekannt) und wenn nicht zu Infektionen mit nötiger Intensivpflege gekommen ist (vgl. Betroffene Singgruppen). Ich wünschte sehr, ich könnte hier Positiveres vermelden. Jedoch erscheint es mir fair, nicht mit solchen Informationen hinterm Berg zu halten, damit Chorleiter*innen und Chor*sängern die Verantwortung für ihr Tun und nötige Schutzmaßnahmen besser einschätzen können.

Es ist daher leider nicht richtig, wenn der Messingenieur der Schweizer Aerosolmessung Dr. Eiche davon ausgeht, dass Aerosole unter 3 μm keine Viren tragen können (Eiche 2020). Diese offenkundige Fehleinschätzung hat dazu geführt, dass die Aerosolproblematik im Schutzkonzept der Schweizer Bühnen, das auch den Schweizer Chorverbänden bei der Erstellung ihrer Schutzkonzepte als Vorlage diente, bis heute vernachlässigt wird und Lüftungsfrequenzen, Abstände und Raumbelegungszahlen zu großzügig empfohlen werden.

d) Kombinierte Mund-Nasen-Atmung setzt Immunfilter Nase außer Kraft

Damit hört das Problem leider noch nicht auf. Denn die spezielle sängerische Atmung weist Besonderheiten auf, die für die Virenaufnahme noch einmal begünstigend sind, und auch für größere Aerosole das Tor zur Lunge öffnen. Denn in der Regel besteht die sängerische Atmung aus einer kombinierten Mund-Nasenatmung. D. h. ein Teil der Luft wird dabei durch den offenen Mund aufgenommen. Dadurch wird der Virenfilter der Nase, der Partikel ab 2,5 μm Größe abfangen kann, ausgehebelt und auch größere Partikel (wohl bis 10 μm) können in die Lunge gelangen. Viele der größeren Partikel werden durch die Mundschleimhäute noch einmal durch die Bronchien auf ihrem Weg in die Lunge aufgehalten. Die folgende Graphik zeigt die Wahrscheinlichkeit, nach der bei der Mundatmung Partikel sortiert nach Größe aufgehalten werden bzw. den Weg bis in die Lunge schaffen – dabei noch einmal aufgesplittet nach Art des Hindernis (Mundraum, Bronchien, Bronchiolen und peripheren Lufträume).

Graphik: Prof. Joachim Heyder nach http://www.helmholtz-muenchen.de

e) Tiefatmung erleichtert Lungengängigkeit für Aerosole

Die sängerische Tiefatmung stellt die tiefen Lungenbereiche für die Atmung viel mehr zur Verfügung als die Normalatmung. Somit können Aerosole besser direkt bis in die Lunge eingeatmet werden. Die zitierte Broschüre der Helmholtz-Gemeinschaft klärt auf:

Atmet man flach – und damit ein geringes Luftvolumen – ein, bleibt die Luft hauptsächlich im sogenannten anatomischen Totraum, also in der Mundhöhle oder der Nase, dem Rachenraum und dem Bronchialbereich – und nur wenig Luft erreicht die Lungenperipherie… Atmet ein Sportler während großer Anstrengung tief durch den Mund ein, gelangen wesentlich mehr Partikel in tiefe Lungenregionen als bei flachen Atemzügen durch die Nase.

Was für Sportler*innen gilt, gilt auch für Sänger*innen. Sänger*innen weiten zudem bewusst der Lungenraum, um besser tief atmen und die sängerische Spannung besser halten zu können. Es ist, glaube ich, gut nachvollziehbar, dass daher die Luft und damit auch die virenangereicherten Aerosole in sehr viel besserer Weise als in normalen Sprech- oder Atemsituation die Tiefen der Lunge erreichen können, wo man eine Corona-Infektion nach Möglichkeit vermeiden sollte.

f) Schnappatmung erleichtert Lungengängigkeit für Aerosole

Bedenken sollte man auch noch, dass beim Singen der Lungenraum nicht nur absichtlich geweitet und tief in die Lunge geatmet wird. Eine sehr charakteristische Art der Atmung, vor allem zwischen den Phrasen, ist die schnelle sängerische Schnappatmung, auf die ich im Zusammenhang mit der erhöhten Produktion von Lungenaerosolen bereits hingewiesen habe. Durch sie entstehen nicht nur 2- bis 3-mal so viele Lungenaerosole wie bei der Normalatmung. Es werden auch mit größerer Energie Aerosole durch den offenen Mund in den Lungenraum bis zu den Lungenbläschen eingesogen, wo eben keine gesonderte Immunabwehr mehr stattfindet.

6. Zusammenfassung (noch alte Fassung – stimmt nicht mit jetzigem Verlauf überein)

Ich wünschte, ich könnte mit besseren Nachrichten aufwarten als mit dem, was ich in diesem Menüpunkt dargestellt habe. Ich denke aber, dass man erst angemessen auf etwas reagieren kann, von dem man weiß, wie und was es ist, als sich eine Wunschrealitität zu gestalten, die nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen übereinstimmt. Dann kann man den nächsten Schritt tun und sich überlegen, wie man auf den Ist-Zustand reagieren kann.

Nach der anfänglichen Zurückweisung der These, dass Gruppen sich aufgrund des Singens selbst angesteckt haben könnten, haben viele Beobachtungen und Indizien gezeigt, dass es doch gute Gründe gibt, genau das anzunehmen. Singgruppen, die oft über das Singen hinaus keine allzu grossen sozialen Kontakte gepflegt haben, haben sich zu oft und zu umfassend angesteckt, als dass dies nur zufällig geschehen sein könnte und als dass dies durch die traditionell propagierten Ansteckungswege erklärt werden könnte. Für diese gab es schlicht zu wenig Berührungspunkt zwischen den Sängern. Zudem fragt es sich, warum im Zusammenhang mit größeren Corona-Ausbrüchen nur über so viele singende (auch tanzende und Sport treibende) Indoorgruppen berichtet wurde, nicht aber über unmittelbar vergleichbare adäquat viele nichtsingende oder schweigende Gruppen. Corona scheint zudem signifikant häufiger und stärker an Opernhäusern (sprich im Gesangs- und Tanztheaterbereich) ausgebrochen zu sein als an reinen Sprechtheatern oder bei Kombinationstheatern vorwiegend im Bereich des Singens und des Tanzens (vgl. Menüpunkt Betroffene Singgruppen).

Uns Ensemblesänger*innen, Choristen und Chorleiter*innen vereint alle das gleiche Ziel, dass wir uns möglichst schnell wieder den Möglichkeiten zu singen vor der Pandemie annähern wollen. Meines Erachtens ist es aber nicht damit getan, das Singen einfach aufgrund von einer Minderheit an Studien oder auch, wie Journalisten darüber berichtet haben, als ungefährlich oder gleich oder weniger gefährlich als Sprechen zu verteidigen und die besondere Ansteckungsgefährdung beim Singen damit abzutun, sondern zu fragen, was tatsächlich ist, um dann auf der Grundlage dessen geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen (die ich an anderer Stelle bespreche), die uns das Singen wieder ermöglichen.

Solange Impfungen und Medikamente uns nicht schützen, gilt es noch zu bedenken – und ich halte es nur für fair gegenüber Chorsänger*innen und Chorleiter*innen, solche Kenntnisse nicht unter den Teppich zu kehren: Das Gruppensingen erweist sich aufgrund mehrerer Beobachtungen als erheblich ansteckungsgefährdender als Sprechen. Die Begründung dafür ist mehrschichtig:

1. Viel größere Aerosolmenge beim Singen als beim Sprechen: Die gemessenen Werte weichen hier wie gezeigt zwar bei verschiedenen vorgenommenen Messungen voneinander ab: Dennoch zeichnet sich unterm Strich der verschiedenen Studien der deutliche Trend ab, dass Singen signifikant mehr Aerosole produziert als das Sprechen, und der einzelne Sänger sowie Singgruppen in den meisten Fällen viel mehr Aerosole produzieren als einzelne Sprecher oder Sprechgruppen. Die Gründe für all das sind diese:

  • Tröpfchen werden durch die gleichbleibende Schwingung der Stimmbänder ideal zu Aerosolen vernebelt: Eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass durch die blosse Vokalisation offenbar durch eine effektive Tröpfchenvernebelung durch die Stimmbänder weit mehr Aerosole entstehen als beim Atmen und Sprechen. Gleiches wird bei gezielt lang gesungenen Tönen beobachtet.
  • Die Art der sängerischen Atmung produziert viel mehr Aerosole kleiner als 1 bis 2 μm: Wissenschaftler haben festgestellt, dass eine Assymmetrie der Produktion von Lungenaerosolen bei verschiedenen Atmungsarten gibt. Die sängerische Normalatemsituation im Fluss eines Stückes produziert dabei die größte Aerosolmenge: Die schnelle Einatmung (der schnelle sängerische Schnappatem zwischen den Phrasen) erhöht die Aerosolmenge gegenüber der Normaleinatmung um den Faktor 2 bis 3, die langsame Ausatmung um den Faktor 6 gegenüber der Normalausatmung. Beim Singen mit Restluft könnten weiterer Forschung zufolge sogar noch viel größere Mengen an Lungenaerosolen entstehen.
  • Die beim Singen geöffnete Mundstellung lässt Aerosole besser austreten: Die gleichbleibende Mundöffnung, Zungen- und Lippenstellung bei längeren Tönen begünstigt den Austritt von Aerosolen durch den Mund gegenüber dem Sprechen enorm. Wenn nicht gerade schneller Text gesungen wird, unterscheidet sich das Sprechen im Hinblick auf die Aerosolabgabe durch viel häufigeres Abklemmen des aerosoltragenden Luftstroms aufgrund einer schnellen Folge von Zungenbewegungen und von Mundverschluss. Durch das immer wiederkehrende Blockieren des Atemstroms durch Zunge und Mund und das dadurch schnelle Umlenken der Ausatemluft zwischen Mund und Nase könnten Aerosole schon vermehrt beim Austreten aufgehalten werden.
  • Gesangsgruppen singen meistens lauter als Sprechende oder Sprechgruppen sprechen: Bei mehreren Studien wurde festgestellt, dass die Menge der Aerosole der Tendenzen mit der Lautstärke massiv ansteigt (Ausnahmen bei Profis im hohen Lautstärkebereich bestätigen die Regel). Sprechen und Gruppensingen lässt sich schon deshalb schwer miteinander vergleichen, weil das Grundniveau der Lautstärke bei den Teilnehmern einer singenden Gruppe in aller Regel lauter ist als in den meisten Sprechsituationen.
  • In der Regel singen viel mehr gemeinsam als sprechen: In der Chorsituation singen oft alle gemeinsam, in Sprechgruppen ist Vergleichbares eher die Ausnahme. Je näher es auf ein Konzert zugeht, desto größer wird die Zeit des gemeinsamen Gesangs, desto größer wird auch die Aerosolproduktion.

2. Sängerische Atmung und Aerosolaufnahme: Punkt 1 betraf die Gründe für die erhöhte Aerosolproduktion beim Gruppengesang. Punkt 2 betrifft die Qualität der Aerosole für die Virenübertragung und die Begünstigung einer Ansteckung durch den sängerischen Atem. Die Gründe dafür sind diese:

  • Singen produziert viel mehr lungenbläschengängige Aerosole: Singen produziert durch die stark erhöhte Produktion von Lungenaerosolen und von Stimmbandaerosolen viel mehr als das Sprechen Aerosole von einer Größe (kleiner als 1- 2 μm) und damit einer Qualität, die bis tief in die Lungenbläschen eingeatmet werden kann, wo es kein gesondertes Immunabwehrsystem mehr gibt, wie dies etwa die Nase, die Bronchien und die Bronchiolen zur Verfügung stellen. Ein viel größerer Anteil des durch das Sprechen produzierten Partikelvolumens (größer als 2 μm) ist rein technisch nicht in der Lage dazu und/oder wird durch diese Immunabwehr der Nasenschleimhäute, der Bronchien und der Bronchiolen abgefangen.
  • Großer Teil der “Singaerosole” lungenbläschengängig: Die Aerosole, die bis in die Lungenbläschen gelangen können, machen einen nennenswerten Anteil der beim Singen produzierten Aerosole aus.
  • Lungenbläschengängige Aerosole scheinen mehr SARS-CoV-2-Viren zu tragen: SARS-CoV-2-Viren in der Luft haften dummerweise bevorzugt an kleineren Aerosolen, wie Untersuchungen gezeigt haben, von denen ein nennenswerter Anteil die tiefen Lungenbläschen erreichen kann, wo sie besonders Schaden anrichten können.
  • Erhöhte Produktion lungengängiger Aerosole bei Infizierten: Verschiedene Forschungen bei anderen Virusinfektion (Influenza, andere Coronaviren) haben gezeigt, dass Infizierte deutlich mehr Lungenaerosole produzieren.
  • Kombinierte Mund-Nasen-Atmung setzt Immunfilter Nase außer Kraft: Die kombinierte Mund- und Nasenatmung sorgt dafür, dass bei der Atmung das natürliche Immunabwehrsystem der Nasenschleimhäute stärker umgangen wird. Grössere Aerosole ab 5 μm aufwärts werden in der Regel, aber auch ein Teil der kleineren Aerosole wird durch das Immunfiltersystem der Nase abgefangen.
  • Tiefatmung erleichtert Lungengängigkeit für Aerosole: Die sängerische Tiefatmung stellt die tiefen Lungenbereiche für die Atmung viel mehr zur Verfügung als die Normalatmung. Somit können Aerosole besser direkt bis in die Lunge eingeatmet werden.
  • Schnappatmung erleichtert Lungengängigkeit für Aerosole: Die sängerische Schnappatmung zieht Kleinaerosole zudem energisch und verbessert bis tief in die Lungenbläschen, wo keine gesonderte Immunabwehr mehr stattfindet.

Schlussfolgerung: Die Menge der dargestellten Faktoren erklärt, meine ich, hinreichend, warum es gerade bei Singgruppen immer wieder zu größeren Corona-Ausbrüchen kommen konnte. Es zeigt, dass Gruppengesang nicht mit normalen Sprechsituationen verglichen werden kann und dass es zur Ansteckungsvermeidung in Chören eines besonderen Schutzes bedarf, der mit großem Nachdruck gesagt über die allgemein empfohlenen Maßnahmen hinausgehen muss. “Singen ist maximal infektiös” bringt es der Chefarzt der Infektiologie am Unispital St. Gallen Prof. Pietro Vernazza auf den Punkt, den viele Corona-Skeptiker als Lichtgestalt hochhalten, weil Vernazza für die natürliche Erreichung der Herdenimmunität plädiert hatte. Wie stark die einzelnen oben aufgezählten Risikoaspekte beim besonderen Ansteckungsrisiko des Singens zu gewichten sind, kann nicht abschließend geklärt werden, weil hier noch Grundlagenforschung fehlt, die dies aufschlüsseln könnte.

Die von dem Forscherteam um den Tuberkulose-Forscher Joseph Bates angestellte und oben thematisierte Beobachtung bei einem Massenausbruch von Tuberkulose in einem in sich geschlossenen System, nämlich einem Internat, dass sich damals Tuberkulose hochsignifikant häufiger über Chorstunden als bei den gemeinsamen Mahlzeiten in der Kantine und in den engen Schlafsälen der Schüler verbreitet hatte, ist, denke ich, ernst zu nehmen und auf Covid-19 übertragbar. Erst dieses Ereignis brachte Bates damals auf die heute bestätigte Idee, dass es ein besonderes und beachtenswerteres Ansteckungsrisiko bei luftgetragenen Krankheiten beim Singen geben könnte, da man es beim Singen mit speziellen Bedingungen zu tun hat, die sich von anderen Tätigkeiten unterscheiden. Singen wirkt also wohl leider im Fall von Covid-19 als eine Art Ansteckungskatalysator oder Turbo, der die Ansteckungsfähgigkeit des einzelnen stark erleichtert und wie unter eine Lupe legt: Infizierte mit niedriger Virenlast, die sonst niemanden infiziert hätten, können vermittels Singen (und lautem Lachen + Schreien) andere eventuell doch anstecken. Stärker Infizierte, die vielleicht nur wenige angesteckt würden, könnten wohl durch längeres Singen, Lachen und Schreien zu Superspreadern werden. Wie dem auch sei, sind wir als Singende und Chorleitende einem größeren Ansteckungsrisiko ausgesetzt und auch verwundbarer als in anderen Situationen.

Nun bedeutet das aber noch lange nicht, dass jeder krank wird, der zum Chor singen geht und den Mund auftut. Ob und wie oft es tatsächlich zu Coronainfektionen über den Chorgesang kommt, hängt natürlich maßgeblich von der allgemeinen Ansteckungssituation im Umfeld eines Chores, von der möglichen Menge von Infizierten im Chor oder von dem Pech ab, ob ein Superspreader oder infizierter Superemitter im Chor mitsingt. Nur jeder 5. Infizierte ist höher infektiös, und jeder 100. bis 1000. vielleicht ein klassischer Superspreader mit sehr hoher Virenlast.

Ob und wie häufig es zu Infektionen kommt, hängt aber auch maßgeblich davon ab – und hierauf sollten wir setzen -, wie sehr man sinnvolle Schutzmaßnahmen wie Abstandhalten, eine wirklich ausreichende Lüftung, Luftfiltermöglichkeiten usw. ernst nimmt, solang von Covid-19 noch ein größeres Risiko ausgeht. Verantwortliche von Gruppengesangveranstaltungen tragen eine hohe Verantwortung. Auf weiterführende Schutzmaßnahmen zu verzichten gleicht auf diesem Hintergrundwissen meines Erachtens einer Lotterie und würde wohl immer wieder zu scheinbar zufällig auftretenden Corona-Gruppeninfektionen beim Singen führen, solange Impfung und geeignete Medikation das Problem nicht reduziert, aufgefangen oder beseitigt haben. Bloßes Abstandhalten, Kontaktvermeidung und Händewaschen – Maßnahmen, die bislang in vielen Ländern propagiert wurden – lösen das Problem jedenfalls nicht: Die Gefährdung liegt hauptsächlich in der Luft – und wirkt am schnellsten bei fehlender Distanz und dann im gesamten Raum, aus dem virenbeladene Aerosole nicht abgeführt werden.

Bei all diesen unschönen Befunden, die ich hier vorgestellt habe und die nicht unter den Teppich gekehrt werden sollten, möchte ich mich dem Votum des oben genannten Forscherteams Loudon und Roberts anschließen, die 1967 erstmals die höhere Produktion kleiner Aerosole experimentell festgestellt hatten und in ihrem Abschlussbericht schrieben:

Die anwesenden Autoren möchten nicht, dass ihre Erkenntnisse so ausgelegt werden, dass sie vorschlagen, das Singen zu verbieten… Besser, dass Menschen sich versammeln, um zusammen zu singen als einander anzuschreien, auch wenn die produzierten Tröpfchen kleiner und daher gelegentlich gefährlicher sind.

Team Loudon und Roberts 1967

Dieser Aussage möchte ich mich unbedingt anschließen. Möglichst effektive und von Singgemeinschaften auch ernst genommene Schutzmaßnahmen sollten Verbote nicht nötig machen. Und wenn denn Verbote ausgesprochen werden, dann sollten dies allenfalls eine befristete situationsbedingte Ultima ratio sein. Aber wir müssen dazu auch wissen, dass wir die Verantwortung haben.

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